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Inhalt


1 Einleitung

2 Einzelperspektiven in Villette

2.1 Lucy Snowe
2.1.1 Parameter der Perspektivenentwicklung Lucys


2.1.1.1 Beschreibung der Welt in Bretton als Projektion der Wünsche und Sehnsüchte Lucys
2.1.1.2 Selbständigkeit und Eigenverantwortung durch Isolation


2.1.2 Implizite Selbstcharakterisierung Lucys durch Auseinandersetzung mit den  Perspektiven der anderen Figuren
2.1.2.1 Miss Marchmont
2.1.2.2 Ginevra Fanshawe


2.2.  Figurenperspektiven
2.2.1 Mme Beck


2.2.1.1 Perspektiveninhalte
2.2.1.2  Art der Darstellung der Perspektive
2.2.1.3  Dynamik der Perspektive


2.2.2 M. Paul
2.2.2.1   Perspektiveninhalte
2.2.2.2   Dynamik der Perspektive
2.2.2.3   Art der Darstellung der Perspektive
2.2.3 Perspektiveninhalte und Dynamik der Perspektive John Graham Brettons

3 Perspektivenstruktur
3.1  Selektion und Kombination von Figurenperspektiven
3.2  Grad der Ausgestaltung der Erzählerperspektive
3.3  Grad der Integrativität der Einzelperspektiven

4 Wirkungspotential der Perspektivenstruktur

5 Bibliographie

1 Einleitung

Charlotte Brontës Roman Villette (1853) ist dominiert von der Wirklichkeitssicht der Erzählerin Lucy Snowe, die als autodiegetische Erzählinstanz retrospektiv die Entwicklung ihres Lebens beschreibt. Dabei entfaltet sie detailliert ihre eigene Perspektive sowie die Perspektive der Figuren, die ihr auf ihrem Lebensweg begegnen. Diese Arbeit wird die Entwicklung der Perspektive Lucy Snowes sowie die der anderen Figuren auf inhaltliche und formale Aspekte hin untersuchen. Aus Gründen des beschränkten Umfangs dieser Arbeit sollen nur die Perspektiven Mme Becks, M. Pauls und Grahams einer detaillierten Analyse unterzogen werden. Die im Rahmen der Besprechung der Figurenperspektiven ausgelassenen Perspektiven finden jedoch Eingang in die Überlegungen zur Perspektivenstruktur im dritten Teil dieser Arbeit.

Die Perspektivenstruktur eines Textes ist ein auf der übergeordneten Kommunikationsebene N3 anzusiedelndes Phänomen. Sie konstituiert sich durch "die Beziehung aller Figurenperspektiven zueinander und durch deren Verhältnis zur Erzählerperspektive".  Die Perspektivenstruktur ist somit mehr als nur "die Summe aller Teile, denn sie erfaßt modellhaft die strukturellen Verhältnisse zwischen allen Einzelperspektiven".  Die Kommunikationsebene N3 ist ein abstraktes Konstrukt, das von Nünning als "die Summe aller strukturellen Kontrast- und Korrespondenzrelationen, die sich durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen textuellen Elementen auf N1 und N2 ergeben"  beschrieben wird. Es ist also ein "virtuelle[s] System" , da die Beziehungen, die zwischen den verschiedenen textuellen Elementen bestehen, erst von den Rezipienten durch die Auseinandersetzung mit dem Gesamttext erzeugt werden können. Aus diesem Grund stellt die Ebene N3 so etwas wie die Schnittstelle zwischen Text und Rezipienten dar. Bevor jedoch Aussagen über die Perspektivenstruktur des Textes gemacht werden können, müssen die verschiedenen textuellen Elemente analysiert werden. Eine Analyse der Einzelperspektiven wird deshalb den ersten Teil dieser Arbeit ausmachen.

 

2 Einzelperspektiven in Villette

Charlotte Brontës Roman Villette ist in Form einer fiktiven Autobiographie erzählt, in der Lucy Snowe als Erzählerin und Hauptprotagonistin fungiert. Lucy Snowe erzählt retrospektiv die Geschichte ihres Lebens und vermittelt dem Rezipienten dadurch einen Eindruck von den verschiedenen Stadien der Entwicklung ihres Bewußtseins. Charlotte Brontë bedient sich hier einer der beliebtesten Erzählformen des 19.Jahrhunderts, der autodiegetischen Erzählung, die neben heterodiegetischen Erzählungen die am häufigsten verwendete Erzählform darstellt.  Als autodiegetische Erzählerin ist Lucy durch ihren eingeschränkten Informationsstand nicht in der Lage in das Bewußtsein der anderen Aktanten hineinzublicken. Die erzähltechnischen Mittel, mit denen Lucy die unterschiedlichen Voraussetzungssysteme der einzelnen Aktanten beschreiben kann, sind aus diesem Grund auf Dialogwiedergabe, Beschreibung der Handlungen der Figuren sowie Kommentare über Dialog, Dialogverhalten und Handlungen beschränkt. Generell ist das Voraussetzungssystem einer Figur sowie das der Erzählerin bzw. des Erzählers durch vier Faktoren determiniert:

(1) Der jeweilige Informationsstand einer Figur, der als "Summe aller Erfahrungen und Handlungen der Figur anzusehen [ist]; diese zeigen sich in den Fähigkeiten und dem Wissen einer Figur, die sich mit jeder weiteren Handlung verändern." (2) Die psychologische Disposition der Figur, die determiniert ist durch "deren erworbene Bedürfnisse sowie deren Motivation und Intention." (3) Die Werte und Normen einer Figur, die ebenfalls deren "Bedürfnisse, Intentionen und Motivationen" bestimmen und (4) Die "Triebstruktur", die sich in den angeborenen Bedürfnissen menschlicher Lebewesen ausdrückt, die "ihrerseits durch die gesellschaftlichen Normen reguliert oder beschränkt werden."

Entscheidend bei mit autodiegetischen Erzählinstanzen ausgestatteten Erzählwerken ist die Perspektivendiskrepanz zwischen erzählendem und erlebendem Ich: Das ältere, erzählende Ich beobachtet und kommentiert das jüngere, erlebende Ich und vermittelt den Rezipienten auf diese Weise Informationen über die verschiedenen Stadien der Entwicklung ihres Voraussetzungssystems. Dadurch entsteht eine Distanz zwischen früherem und gegenwärtigem Voraussetzungssystem, die "die stets anzusetzende, wenn auch nicht immer aktualisierte, Dynamik jeder Perspektive"  verdeutlicht. Im folgenden Teil der Arbeit sollen die Darstellung sowie die Inhalte der Entwicklungen der Perspektiven ausgewählter Figuren analysiert werden. Zentrale Figur der Erzählung ist Lucy Snowe, deren Perspektivenentwicklung durch die ältere, erzählende Lucy Snowe vermittelt wird. Da die Erzählerin Lucy die übergeordnete Orientierungsinstanz darstellt, deren Voraussetzungssystem notwendigerweise eine Filterfunktion für die Darstellung der Perspektiven der anderen Aktanten ausübt, soll eine Analyse Lucys Perspektive der Analyse der Perspektiven der anderen Figuren vorausgehen.

 

2.1 Lucy Snowe

2.1.1 Parameter der Perspektivenentwicklung Lucy Snowes

Lucy Snowe beginnt die Erzählung mit der Darstellung ihrer Jugendjahre in Mittelengland. Im Mittelpunkt steht dabei die Beschreibung der Entwicklung ihres Voraussetzungssystems, das wesentlich durch ihre Erfahrung der sozialen und emotionalen Isolation geprägt wird, in der sie aufwächst. In diesem Teil der Arbeit soll gezeigt werden, für welche Aspekt dieser Entwicklung Lucys Darstellung ihrer Isolation sowie ihrer Beschreibung der Welt in Bretton wichtige Parameter darstellen. Eine Betrachtung der Handlungsstruktur der Figur Lucy ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, denn zwischen den Handlungen einer Figur und deren Perspektive besteht eine "motivationale Korrelation".  Wie Nünning anmerkt wirken einerseits "das Voraussetzungssystem einer Figur bzw. einzelner Ausschnitte daraus handlungssteuernd, andererseits lassen sich aus den Handlungen einer Figur Elemente ihres Voraussetzungssystems erschließen."  In den ersten Kapiteln des Romans beschreibt Lucy die Erfahrung der zunehmenden Entfremdung und Isolation von ihrer Umwelt und setzt sie in ursächlichen Zusammenhang zur Entwicklung der Handlung sowie ihrer Perspektive. Die Darstellung der Welt in Bretton erfüllt dabei zwei Funktionen: Lucy schafft sich eine ‘Gegenwelt’, in die sie ihre Wünsche und Sehnsüchte projiziert, die a) ihre Handlungen motivieren und b) implizit Aufschluß über ihr Bedürfnis nach Ruhe und Geborgenheit geben, außerdem dokumentiert Lucy durch die Art der Darstellung der Welt in Bretton ihre Isolation und Entfremdung von der Umwelt.

 

2.1.1.1  Beschreibung der Welt in Bretton als Projektion der Wünsche und Sehnsüchte Lucys

Zu Beginn der Erzählung schildert Lucy die Geborgenheit, die sie im Haus ihrer Patentante in Bretton erfährt. Lucy leidet angesichts ihrer unbestimmten und unvorhersehbaren Zukunft unter einer "unsettled sadness" , und sieht daher im Aufenthalt in Bretton eine willkommene "change of scene and society".  Durch Lucys Schilderung ihrer positiven Erfahrung der Welt in Bretton verleiht Lucy einerseits ihrer Sehnsucht nach Ruhe und Geborgenheit Ausdruck, andererseits verdeutlicht sie durch die primäre Darstellung der Handlungen der anderen Figuren, daß sie nicht Teil der Welt in Bretton ist. Sie steht außerhalb der beschriebenen Handlung und stellt sich als Beobachterin und Kommentatorin des von ihr in Funktion des neutralen Erzählmediums vermittelten Geschehens dar.  Im Gegensatz zu Lucy, die als Waise keine Wurzel in der Gesellschaft hat, stehen ihre Patentante Louisa Bretton und ihr Sohn Graham mitten in der Gesellschaft: Bezeichnender Weise tragen sie ebenso wie der Ort in dem sie wohnen den Namen Bretton. Diese strenge Übereinkunft zwischen Person und Ort "defines a norm, which [...] Lucy Snowe is never able to achieve" , die aber dennoch exemplarisch für Lucys "increasing desire to signify"  sowie für ihre Suche nach einem festen Platz in der Gesellschaft ist. Dieses Bedürfnis Lucys, Bestandteil des sie umgebenden gesellschaftlichen Lebens zu werden, motiviert die weitere Handlung und ist deshalb für das Verständnis ihrer Perspektive wichtig.

Betrachtet man Lucys Beschreibung ihrer psychischen Disposition und der Atmosphäre in Bretton und vergleicht die dabei verwendeten Attribute mit denen, die sie zur Beschreibung der Schule in der Faubourg Clotilde verwendet, stellt man eine erstaunliche Übereinstimmung fest. Dadurch wird deutlich, daß a) Lucys Wünsche und Sehnsüchte im Verlauf der Erzählung konstant bleiben und b) Lucy intentional im Hinblick auf die Bedürfnisbefriedigung handelt.

Lucy beschreibt die Atmosphäre in Bretton mit Attributen wie ruhig, warm, sonnig und hell. Die Räume erscheinen ihr als "large and peacefull", die Möbel sind "well arranged" und die Fenster "clear and wide".  Die Zeit an der Seite ihrer Patentante verläuft nicht mit der von Lucy ungeliebten "tumultuos swiftness", sondern sie fließt "smoothly, like the gliding of a full river through a plain".  Diese Beschreibung stellt eine Projektion ihrer Wünsche und Sehnsüchte dar, die sich im weiteren Verlauf der Erzählung als motivationale Faktoren der Handlungsstruktur herauskristallisieren. Lucy ist auf der Suche nach einem Ort, der wie Bretton ihr Bedürfnis nach Ruhe und Geborgenheit befriedigt.

Am Ende der Erzählung steht die Beschreibung der Schule in der Faubourg Clotilde, die für Lucy die Erfüllung ihrer in die Beschreibung Brettons projizierten Wünsche und Sehnsüchte darstellt. Ihr Leben erscheint Lucy als "wonderfully changed", ihr Herz als "relieved".  Ebenso wie bei der Beschreibung Brettons richtet sich Lucys Augenmerk bei der Darstellung des Hauses in der Faubourg Clotilde auf die Möbel, die Fenster, die Ordnung und Sauberkeit und auf die Umgebung des Hauses. Das Haus in der Faubourg Clotilde ist zwar klein, aber die bei der Beschreibung Brettons so betonte stille Atmosphäre herrscht auch hier. Im Gegensatz zur Darstellung der "hot, close rooms"  Miss Marchmonts betont Lucy bei der Schilderung Brettons und der Faubourg Clotilde die Öffnung zur Außenwelt. In Bretton erfüllen diese Funktion die klaren, großen Fenster, in der Faubourg Clotilde das geöffnete Gitter, durch das die Luft strömt und "freshness"  in den Raum bringt. Dadurch daß Lucy die Schule in der Faubourg Clotilde durch die Verwendung von Attributen beschreibt, die sie auch zu Darstellung Brettons verwendet hat, bringt sie die beiden Orte in kausalen Zusammenhang: Bretton ist der Ort, an dem sie sich ihrer Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte erstmals bewußt wird, die Schule in der Faubourg Clotilde schließlich der Ort der Erfüllung eben dieser Bedürfnisse.

 

2.1.1.2  Selbständigkeit und Eigenverantwortung durch Isolation

Das Ausmaß ihrer Isolation und deren Auswirkung auf ihr Leben schildert Lucy im Anschluß an die Beschreibung der Welt in Bretton. Lucy erlaubt den Rezipienten sich vorzustellen, sie habe die nächsten acht Jahre nach dem Verlassen Brettons wie ein Schiff, "slumbering through halycon weather, in a harbour still as glass" verbracht, "idle, basking, plump, and happy, streched on a cushioned deck, warmed with constant sunshine, rocked by breezes indolently soft."  Den Verlust ihrer Bezugspersonen und die Isolation, in die sie dadurch gezwungen wird, beschreibt sie durch ein Spiel mit der Metapher des ruhig im Hafen liegenden Schiffes, das plötzlich in einen Sturm gerät und Schiffbruch erleidet.

"However, it cannot be concealed that, in that case, I must somehow have fallen over-board, or that there must have been wreck at last. I too well remember a time - a long time, of cold, of contention. To this hour, when I have the nightmare, it repeats the rush of saltness of briny waves in my throat, and their icy pressure on my lungs. I even know there was a storm, and that not of one hour or one day. For many days and nights neither sun nor stars appeared; we cast with our own hands the tackling out of the ship; a heavy tempest lay on us; all hope that we should be saved was taken away. In fine, the ship was lost, the crew perished."

Nach dem Verlust ihrer Verwandtschaft und Mrs. Brettons, zu der sie jeden Kontakt durch "impediments, raised by others"  verloren hat, befindet Lucy sich in einer Situation der Isolation, der sie durch die rhetorische Frage "Indeed, to whom could I complain?"  sowie durch ihre Aussage: "there remained no possibility of dependence upon others; to myself alone could I look"  auch explizit Ausdruck verleiht. An diesem Punkt der Erzählung weist Lucy ebenfalls explizit auf die Ursache - Wirkung Relation zwischen der Entwicklung ihres Voraussetzungssystems und den Umständen, die diese Entwicklung determinieren, hin: "I know not that I was of a self-reliant or active nature; but self-reliance and exertion were forced upon me by circumstances."  Ihr Schicksal als Waise, die nur auf sich allein gestellt durchs Leben gehen muß, stellt Lucy als den Faktor dar, der ihre Perspektivenentwicklung entscheidend prägt. Die generalisierenden Anmerkungen Lucys bei der Analyse der Handlung -und Perspektivenentwicklung determinierenden Umstände weisen außerdem implizit darauf hin, daß ihr Schicksal nicht nur durch ihren Waisenstatus bestimmt ist, sondern auch durch ihre Stellung in der viktorianischen Gesellschaft, die einer Frau "apart from marriage and motherhood [...] little in the way of a realistic alternative".  anbietet. "A great many women and girls are supposed to pass their lives something in that fashion; why not I with the rest?"  sagt sie im Anschluß an die Darstellung der auf den Aufenthalt in Bretton folgenden acht Jahre. Selbständigkeit und eigenverantwortliches Handeln seien nicht nur ihr aufgezwungen worden, sondern ebenfalls "thousands besides" . Der Annahme Robert Bledsoes, der argumentiert, Lucy würde konsequent jegliche Verantwortung für ihr Handeln mit dem Hinweis auf ihr Schicksal von sich weisen, kann in diesem Kontext nur widersprochen werden.  Vielmehr kritisiert Lucy implizit die ihr Schicksal bestimmenden gesellschaftlichen Zustände, die einer von Zwängen freien Entwicklung ihrer Persönlichkeit im Weg stehen.

Lucys Bemühungen, diese ihr auferlegte Isolation zu überwinden und einen Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen machen die Dynamik ihrer Perspektive aus und können als zentrales Thema der Erzählung beschrieben werden.

 

2.1.2   Implizite Selbstcharakterisierung Lucys durch ihre Darstellung und Kritik der Perspektiven der anderen Figuren

Neben den explanativen Äußerungen der Erzählerin Lucy bezüglich der Intentionen und Motivationen, die die Handlungen der Figur Lucy bedingen, lassen sich Informationen über die Perspektiveninhalte Lucys auch durch eine Betrachtung derjenigen Äußerungen der Erzählinstanz erschließen, die sich mit den Perspektiven und Handlungen der anderen Figuren auseinandersetzten. Da eine detaillierte Analyse dieses erzähltechnischen Mittels anhand jeder einzelnen Figurendarstellung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, soll die Funktionsweise dieser impliziten Selbstcharakterisierung an zwei Beispielen vorgeführt werden.

 

2.1.2.1  Miss Marchmont

Durch die Beschreibung Miss Marchmonts Charakter als respektabel lenkt Lucy bewußt die Sympathien der Rezipienten und vermittelt dadurch implizit Informationen, die zur Rekonstruktion ihrer eigenen Perspektivenstruktur beitragen. Lucy kann sich nicht sofort entscheiden, das Angebot Miss Marchmont zu pflegen anzunehmen. Sie will nicht zum "watcher of suffering"  werden, entscheidet sich aber nach kurzer Probezeit und Studie von Miss Marchmonts Charakter für die Annahme der Stelle, denn eine "closer acquaintance [...] opened [...] a view of a character I could respect".  Durch diese Aussage zeigt Lucy, daß sie sich mit den Charaktereigenschaften Miss Marchmonts, die sich außerdem in einer ähnlich isolierten Situation wie Lucy befindet, identifizieren kann. Weiterhin schildert Lucy den Eindruck, den Miss Marchmonts "steadyness of virtue", "power of passion" und "truth of her feelings"  auf sie gemacht haben: "All these things she had, and for these things I clung to her."  sagt die erzählende Lucy und bringt hierdurch zum Ausdruck, daß Miss Marchmonts Charakter Vorbildfunktion für die junge Lucy hat. An der Art, wie Miss Marchmont mit ihrem Reuhmaleiden umgeht, erkennt Lucy, daß sie eine "firm and patient woman" ist.  In der weiteren Darstellung ihres Lebens hat das Wort ‘patience’ Schlüsselfunktion. So betont sie immer wieder die Wichtigkeit von Geduld für ihre eigene Entwicklung und bewertet den Parameter Geduld als positive Charaktereigenschaft anderer Figuren.

Auch in Bezug auf Lucys Leidensfähigkeit hat Miss Marchmont Vorbildfunktion. Genauso wie Miss Marchmont ihr Rheumaleiden mit Geduld und Charakterstärke erträgt, meistert auch Lucy es, mit der Bereitschaft und Fähigkeit Leid zu ertragen, der zunehmende Entfremdung von der Gesellschaft entgegenzutreten. Dies dokumentiert Lucy explizit durch die Beschreibung ihrer Bewußtseinsvorgänge, die der Entscheidung England zu verlassen vorausgehen, ihre: "I might suffer; I was inured to suffering: death itself had not, I thought; those terrors for me which it has for the softly reared. I had, ere this, looked on the thought of death with a quiet eye. "

Ein anderer Charakterzug Miss Marchmonts, den Lucy als positiv herausstellt ist ihre Fähigkeit, selbst in emotionsgeladenen Situationen noch nüchtern und verstandesmäßig handeln zu können. Lucy analysiert: "Moreover, a vein of reason ever run through her passion: she was logical even when fierce".  Durch eine Betrachtung Lucys Bewußtseinsvorgänge, deren Beschreibung die Erzählerin Lucy in die Darstellung ihres Lebens integriert, wird deutlich, daß die Fähigkeit zu rationalem Handeln auch Charaktereigenschaften sind, die Lucys Perspektive auszeichnen. Dies dokumentiert Lucys Darstellung ihrer Ankunft in London. Trotzdem die Fremde der Umgebung und Sprache, die lähmende Kälte sowie die fehlende Erfahrung im Umgang mit Angestellten einer Pension auf Lucy angsteinflößend wirken, schafft sie es dennoch, der Situation entsprechend zu handeln. Bei dieser Darstellung verleiht sie dem ‘Common-sense’ durch die Verwendung der dritten Person Singular den Status einer von ihr selbst losgelöst handelnden Einheit, und dokumentiert so ihre Fähigkeit, den Verstand losgelöst von ihren Emotionen benutzen zu können.

"Into the hands of Common-sense I confided the matter. Common-sense, however, was as chilled and bewildered as all my other faculties, and it was only under the spur of an inexorable necessity that she spasmodically executed her trust. Thus urged, she paid the porter [...], she asked the waiter for a room; she timorously called for the chambermaid; what is far more, she bore, without being wholly overcome, a highly supercilious style of demeanour from that young lady, when she appeared".

Lucys Vorliebe, Dinge kühl und berechnend anstatt emotionsgeladen zu betrachten wird an vielen Stellen der Erzählung thematisiert. Zur Illustration seien hier zwei Textstellen angeführt: Auf Seite 143 geißelt sie die Sage um die schwarzweiße Nonne, die als Geist in der Rue Fossette ihr Unwesen treiben soll, als "romantic rubbish"  und bringt so ihre Abneigung gegen alles nicht rational Faßbare zum Ausdruck. An einer anderen Stelle beschreibt sie die Vorteile, die rationales Reflektieren über Gefühle im Hinblick auf eine bessere Kontrolle des eigenen Lebens bringen:

"These struggles with the natural character, the strong native bent of the heart, may seem futile and fruitless, but in the end they do good. They tend, however slightly, to give the actions, the conduct, that turn which Reason approves, and which Feeling, perhaps, too often opposes: they certainly make a difference in the general tenor of life, and enable it to better regulated, more equable, quieter on the surface [...]."

Wichtig für ein Verständnis Lucy Perspektive ist die Differenz zwischen Lucys äußerem Schein und innerem Sein. Wie im oben angeführten Zitat deutlich wird, ist es Lucy wichtig, nach außen hin ruhig und kontrolliert zu wirken, obwohl sie dadurch in Konflikt mit ihrem ‘natural character’ gerät, der trotz ihrer Versuche ihn zu unterdrücken oft die Überhand gewinnt. So ist Lucy in Kapitel 41 angesichts Mme Becks Versuchen, sie von M. Paul fernzuhalten, nicht mehr in der Lage ihre Gefühle zu kontrollieren, und macht ihnen durch den Aufschrei "My heart will break!"  Luft. Gegenüber G. Fanshawe gelingt es ihr jedoch, die Maske der Unberührbarkeit aufrechtzuerhalten, wie man an Ginevras Einschätzung Lucys Charakters erkennen kann, die sie in ihrem in Kapitel 40 wiedergegebenen Brief an Lucy zum Ausdruck bringt:

"Oh, and how did you like the nun as a bed-fellow? I dressed her up?[sic] - didn’t I do it well? Did you shriek when you saw her? I should have gone mad; but you have such nerves! - real iron and bend leather! I believe you feel nothing. You haven’t the same sensitiveness that a person of my constitution has. You seem to me insensible both to pain and fear and grief. You are a real old Diogenes."

 

2.1.2.2  Ginevra Fanshawe

Die Darstellung der Perspektive Ginevra Fanshawes ist geprägt durch die evaluativen Äußerungen der Erzählerin Lucy, mit denen sie die von ihr in Funktion des neutralen Erzählmediums vermittelten Verhaltensweisen Ginevras kommentiert. Im Falle der kritischen Auseinandersetzung mit den Perspektiveninhalten Ginevras betreibt Lucy eine "explizite Antipathielenkung" , in Fällen der positiv wertenden Kommentare eine Sympathielenkung. Diese Bewertung erfolgt auf Basis des Voraussetzungssystems der Erzählerin Lucy, die durch das Aufzeigen der Kontrast- und Korrespondenzrelationen, die zwischen ihrer und Ginevras Perspektive bestehen, ihre eigenen Werte und Normen definiert.

Eine explizite Antipathielenkung betreibt Lucy bei der Beschreibung Ginevras Verhaltens angesichts der Seekrankheit, unter der Beide während der Kanalüberquerung zu leiden haben.

"[...] and, I am sorry to say, she tormented me with an unsparing selfishness during the whole time of our mutual distress. Nothing could exceed her impatientce and fretfulness. [...] Many a times since have I noticed, in persons of Ginevra Fanshawe’s light, careless temperament, and fair, fragile style of beauty, an entire incapacity to endure [...]. Indignant at last with her teazing peevishness, I curtly requested her ‘to hold her tongue.’ [sic]"

Lucy verleiht ihrer Antipathie gegenüber Ginevras Charaktereigenschaften durch die Verwendung wertenden Vokabulars sowie durch ihre Verweigerung der Kommunikation Ausdruck. Wie Paul Watzlawick anmerkt, hat "alles Verhalten in einer zwischenpersönlichen Situation Mitteilungscharakter".  Es ist unmöglich, nicht nicht zu kommunizieren.  Durch ihre Kommunikationsverweigerung vermittelt Lucy Ginevra und den Rezipienten vielmehr implizit Information über ihre eigenen Charaktereigenschaften. Lucy distanziert sich von Ginevras ungeduldiger, quengelig-unruhiger und selbstmitleidiger Art und definiert somit ex negativo Geduld, Ruhe und Charakterstärke als Inhalte ihre eigenen Perspektive.

Lucys Verhältnis zu Ginevra Fanshawe ist jedoch nicht nur von kritischer Distanz geprägt, sondern es zeigt Ambivalenzen auf. Einerseits distanziert sich die rational handelnde Lucy durch ihre Kritik an den charakterlichen Schwächen Ginevras von denselben, andererseits scheint Lucy Ginevra zu beneiden. "While wandering in solitude"  reflektiert sie ihre Situation im Verhältnis zu der ihrer Bekannten, die während sie allein in Villette bleiben mußte, ihre Ferien in Gesellschaft verbringen. Ginevra erscheint Lucy im Laufe ihrer Reflektionen als eine Art Idol, in deren Darstellung Lucy ihr eigenes Bedürfniss nach Geborgenheit und Integration in die Gesellschaft projiziert.

"There was Ginevra Fanshawe whom certain of her connections had carried on a pleasant tour southward. Ginevra seemed to me the happiest. [...] [She] had a kind of spirit with her, empowered to give constant strength and comfort, to gladden daylight and embalm darkness; the best of the good genii that guarded humanity curtained her with his wings, and canopied her head with his bending form. By True Love was Ginevra followed: never could she be alone."

 

2.2  Figurenperspektiven in Villette

Anders als bei heterodiegetische Erzählungen, in denen die Erzählinstanz in das Bewußtsein aller Aktanten blicken kann und so Informationen über deren Perspektiveninhalte liefert, ist die homodiegetische Erzählerin Lucy dazu nicht in der Lage. Die Figurenperspektiven in Villette lassen sich nur über eine Betrachtung der explanativen und evaluativen Kommentare der Erzählinstanz Lucy Snowe, die das dominanteste der verwendeten erzähltechnischen Mittel darstellt, sowie über eine Analyse der von Lucy in der Funktion des neutralen Erzählmediums vermittelten Handlungen und Dialoge rekonstruieren. Die Dialogwiedergabe erfüllt hierbei zwei Funktionen: Erstens kann das Dialogverhalten der Figuren Aufschluß über deren psychologische Disposition geben, zweitens erhalten die Figuren durch die Wiedergabe ihrer Repliken die Möglichkeit, zu den Perspektiven der anderen Figuren Stellung zu nehmen. Da Lucy sich prinzipiell der gleichen erzähltechnischen Mittel bei der Darstellung der verschiedenen Figurenperspektiven bedient, sollen diese nur am Beispiel der Darstellung Mme Becks und M. Pauls detailliert beschrieben werden.

 

2.2.1  Mme Beck

2.2.1.1 Perspektiveninhalte

Mme Beck wird von Lucy als Figur mit ambivalenten Charakterzügen  dargestellt. Mme Beck erscheint als unberührbare und strenge Schulleiterin, die ihre Schule in der Rue Fossette selbständig und quasi totalitär führt: Weder den Lehrern noch den Schülerinnen gesteht sie das Recht auf eine Intimsphäre zu. Mme Beck "ruled by espionage" , sie hat keine Skrupel hinter verschlossenen Türen zu lauschen, durch Schlüssellöcher zu blicken und Schubladen zu durchwühlen, um an die Informationen zu kommen, die für sie von Interesse für die Leitung der Schule sind: "Interest was the master-key of madame’s nature - the main spring of her motives".  Mme Beck ist ruhig, ernst und selbstsicher und stellt in ihrer Schule eine Respektsperson dar, der sich zu widersetzen schwer fällt. Sie fühlt kein Mitleid mit Einzelschicksalen, ist aber großzügig, wenn es um allgemein menschliche und gesellschaftliche Belange geht. Sie ist menschenfreundlich so lange es ihre Interessen zulassen, scheint aber emotionale Beziehungen zu einzelnen Individuen zu scheuen. Trotz dieser Charaktereigenschaften beschreibt Lucy Mme Beck als "a very great and very capable woman".  Sie führt die Schule zwar mit Strenge und Diziplin, zeigt sich aber als gütig und liberal, insofern es nicht ihren Interessen zuwiderläuft. Im Gegenteil sind Güte und Liberalität im Hinblick auf die an die Schülerinnen gestellten Ansprüche sowie der Bereitstellung guten Essens und ausreichender Zeit zum Schlafen und zur Körperpflege in ihrem Interesse, denn sie tragen zum guten Ruf der Schule bei. Güte und Liberalität sind also nicht durch ihre Emotionen motiviert, sondern sind Zeichen der Rationalität ihres Handelns. Dies wird auch im weiteren Verlauf der Erzählung deutlich. Mme Beck will M. Paul nicht aus Liebe heiraten, sondern weil er ihr als Ehemann bei der Verwirklichung ihrer Interessen von Hilfe sein kann. In diesem Licht scheint Mme Beck "heartless, self-indulgent and ignoble".

 

2.2.1.2 Art der Darstellung der Perspektive Mme Becks

Bei der Darstellung Mme Becks Perspektive macht die Erzählerin Lucy von verschiedenen erzähltechnischen Mitteln Gebrauch. In Funktion des neutralen Erzählmediums vermittelt sie Informationen über die Handlung der Figur und gibt Dialoge wieder, aus denen man Informationen über die Perspektiveninhalte Mme Becks entnehmen kann. Weiterhin erfüllt sie aber auch Funktionen einer expliziten Erzählerin, die sich in beschreibender und wertender Weise mit der Perspektive Mme Becks auseinandersetzt. So verwendet Lucy zur Beschreibung Mme Becks Aussehens attributive Adjektive, die Informationen über die psychologische Disposition der Figur transportieren und die Ambivalenz ihrer Charakterzüge verdeutlichen:

"Madame Beck appeared a personage of a figure rather short and stout, yet graceful in its own peculiar way [...]. I know not of which harmony pervaded her whole person; and yet her face offered contrast, too: [...] [the] outline [of her features] was stern; her forehead was high but narrow; it expressed capacity and some benevolence, but no expanse; nor did her peaceful yet watchful eye ever know the fire which is kindled in the heart or the softness which flows thence."

Weiterhin vermittelt Lucy Informationen über Mme Becks Voraussetzungssytem durch ihre explanativen und evaluativen Kommentare bezüglich der Handlung der Figur. Beispielhaft hierfür ist die Auseinandersetzung Lucys mit der Art Mme Becks, die Schule zu leiten. Sie beschreibt und kritisiert die Mittel, die Mme Beck zur Überwachung ihrer Schülerinnen und Angestellten anwendet als "hardly fair nor justifiable" , lobt die Güte Mme Becks angesichts des guten Essens, analysiert die Intentionen und Motivationen, die Mme Becks Vorgehensweise determinieren und betreibt schließlich durch eine abschließende Bewertung der Leistungsfähigkeit des Systems Sympathiewerbung für Mme Beck.

Ebenfalls in die Kategorie ‘Informationsvermittlung durch Beschreibung und Bewertung von Handlungszusammenhängen’ fällt Lucys Analyse der Handlungen der "secret junta"  in Kapitel 34/35. Zunächst beschreibt sie die Ereignisse, die sich bei der Erfüllung Mme Becks Auftrag in Madame Walravens Haus abspielen, um im Anschluß daran deren kausale Verknüpftheit aufzuzeigen. Dadurch erhalten die Rezipienten Informationen über Mme Becks Motivationen und Intentionen sowie über ihre Werte und Normen. Mme Becks Handlungen werden als von dem Wunsch motiviert dargestellt, in Lucy Antipathien gegenüber M Paul zu schüren. Die Mittel, die sie hierbei anwendet verdeutlichen Mme Becks Skrupellosigkeit, die vorher schon durch explizite Kommentare beschrieben worden ist.

Das Dialogverhalten Mme Becks unterstützt die von Lucy in Funktion der expliziten Erzählinstanz dargestellten Charaktereigenschaften der Figur, gibt aber keinen Aufschluß über neue Aspekte des Voraussetzungssystems. Mme Becks Repliken sind meist kurz, funktional und emotionslos und bestätigen so die Analyse Lucys, die sie als kalt, herzlos und von der ausschließlichen Befriedigung ihrer eigenen Interessen geprägte Figur darstellt.

 

2.2.1.3 Dynamik der Perspektive

Trotz der Ambivalenz der Charakterzüge Mme Becks und der Dynamik der Darstellung ihrer Perspektive, die sich daraus ergibt, daß Lucy als Fokalisierungsinstanz eine graduelle Veränderung des Verhaltens Mme Becks beschreibt, bleibt das ihr Handeln bestimmende Werte- und Normensystem im Laufe der Erzählung statisch. Es ist geprägt von ihrem Glauben an die Wirksamkeit autoritärer Führungsstrukturen, der sich an der Art der Leitung ihrer Schule sowie an der skrupellosen Art der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen festmachen läßt. Sowenig sie sich scheut, die in Ungnade gefallene Lehrerin Mrs. Sweeny von der Polizei aus ihrem Haus entfernen zu lassen, sowenig Skrupel hat sie, Lucy durch Intrigen und Einsatz von Betäubungsmitteln von M. Paul fernzuhalten.

Ebenfalls statisch ist ihre psychologische Disposition. Mme Beck versucht durch die Erzählung hindurch, ihre Emotionen durch ihre ruhige und geduldige, aber gleichzeitig unnahbare Art zu verbergen, um zu verhindern, daß die anderen Figuren über eine Analyse ihrer sichtbaren Gefühlsregungen Aufschluß über ihr Voraussetzungssystem erhalten können.

Auch die Motivationen und Intentionen bleiben im Verlaufe der Erzählung konstant. Mme Becks Handlungen erscheinen durch die gesamte Erzählung hindurch als rational motiviert. Dies ist der Fall im Hinblick auf die Leitung der Schule sowie im Hinblick auf ihre Versuche, Lucy von M. Paul fernzuhalten. Es ist nicht Liebe, aus der sie M. Paul für sich beansprucht, sondern "interest". Folgendes Beispiel soll hierfür als Illustration dienen: "You must not marry Paul" fordert Mme Beck. Lucy antwortet und analysiert im Anschluß daran Mme Becks Intentionen und Motivationen bezüglich ihres eigenen Anspruchs auf M. Paul.

" ‘Dog in the manger!’ I said; for I knew she secretly wanted him, and had always wanted him. [...] She did not love, but she wanted to marry, that she might bind him to her interest. Deep into Madame’s secrets had I entered - I know not how; by an intuition or an inspiration which came to me - I know not whence. [...] Two minutes I stood over Madame, feeling that the woman was in my power, because in some moods [...] her habitual disguise, her mask and her domino, were to me a mere network reticulated with holes; and I saw underneath a being heartless, self-indulgent, and ignoble."

 

2.2.2  M. Paul Emmanuel

2.2.2.1  Perspektiveninhalte

M. Pauls Perspektive zeichnet sich durch die Komplexität der dargestellten Charaktereigenschaften aus. Bescheidenheit, Selbstaufgabe und Wohltätigkeit sind ihm durch seinen katholischen Glauben internalisierte Tugenden, die sich in seinem Handeln widerspiegeln. Generell scheinen seine Werte und Normen von seinem christlichen bzw. katholischen Glauben geprägt zu sein. Charakteristisch für M. Paul sind seine schnell wechselnden Launen, seine absolutistische und autoritäre Art und seine Vorliebe, im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Er ist sehr temperamentvoll und lebt seine Launen aus, anstatt sie zu unterdrücken. Gerade noch reizbar, hitzig, gebieterisch, willkürlich und streng kann er im nächsten Moment schon wieder lebhaft, freundlich, gütig und mild sein.   Er ist sich dessen aber sehr wohl bewußt und versucht sein Temperament zu zügeln. So überwiegt letztendlich meist der gütige, sich selbst für andere aufopfernde M. Paul, was ihm auch die Sympathien der Schülerinnen einbringt. Außerdem ist M. Paul sehr impulsiv. Er handelt oft ohne vorher die möglichen Konsequenzen zu reflektieren und wirkt dadurch ehrlich und offen, aber auch naiv.

 

2.2.2.2 Dynamik der Perspektive

Die Dynamik M. Pauls Perspektive ergibt sich aus der Veränderung seines Werte- und Normensystems im Laufe der Erzählung. Ist er zu Beginn seiner Bekanntschaft mit Lucy noch voller Vorurteile gegenüber ihrer "nurslings of Protestantism" , legt er diese Bedenken am Ende der Erzählung ab. M. Paul scheint über weite Strecken des Romans als Spiel- und Werkzeug der Verschwörung Mme Becks, Madame Walravens und Père Silas, die M. Pauls "affection, his devoteness, his sincere pious enthusiasm"  sowie seine impulsive Offenheit für ihre Zwecke ausnutzen. Diese impulsive Offenheit bereitet der Verschwörung einerseits den Boden, ist aber auch der Grund für ihr Versagen und verantwortlich für M. Pauls Revision seines Werte- und Normensystems, in der die Dynamik seiner Perspektive begründet ist:

"I [Lucy] found that Père Silas [...] had darkly stigmatized Protestants in general, and myself by inference [...]. Monsieur Emmanuel revealed all this in his frank fashion, which knew not secretiveness, looking at me as he spoke with a kind, earnest fear, almost trembling lest there should be truth in the charges."

Dadurch, daß M. Paul diese Information an Lucy weitergibt, erhält sie die Möglichkeit zur Stellungnahme und kann ihn davon überzeugen, daß Père Silas grob stereotypisiert hat und den Sinn für das Wesentliche des christlichen Glaubens verloren zu haben scheint. Die Veränderung in M. Pauls Perspektive zeigt sich deutlich auf Seite 517. Im Anschluß an Lucys Ausdruck ihrer Empörung angesichts des auf sie ausgeübten Drucks Père Silas’, reagiert M. Paul anders als von ihm gewohnt. Er antwortet nicht mehr laut, despotisch und impulsiv sondern er flüstert und denkt nach, bevor er seiner veränderten Einstellung Ausdruck verleiht und seine Vorurteile begräbt:

"How seem in the eyes of God who made all firmaments from whose nostrils issued whatever of life is here, or in the stars shining yonder - how seem the differences of man? But as Time is not for God, nor Space, so neither is Measure, nor Comparison. We abase ourselves in our littleness, and we do right; yet it may be that the constancy of one heart, the truth and faith of one mind according to the light He has appointed, import as much to Him as the just motion of satellites about their planets, of planets about their suns, of suns around that mighty unseen centre incomprehensibly, irrealizable, with strange mental effort only divined. God guide us all! God bless you, Lucy!"

 

2.2.2.3 Art der Darstellung der Perspektive

Wie auch schon bei der Darstellung Mme Becks Perspektive verwendet Lucy zur Vermittlung der Perspektiveninhalte M. Pauls explanative und evaluative Erzählerkommentare. So finden sich auch bei der Beschreibung M. Pauls attributive Adjektive, durch deren Verwendung Lucy sein Aussehen beschreibt und seinen Charakter bewertet. Ebenfalls betreibt Lucy Handlungsanalysen, durch die sie Informationen über M. Pauls Voraussetzungssystem bereitstellt. Als Beispiel hierfür sei Lucys Auseinandersetzung mit M. Pauls Verhalten im Anschluß an seine Rede im Hôtel Crécy angeführt.

"As our party left the Hall , he [ M. Paul] stood at the entrance, [...] offered his hand in passing, and uttered the words ‘Qu’ en dîtes vous?’ - question eminently characteristic, and reminding me, even in this moment of triumph, of that inquisitive restlessness, that absence of what I considered self-control, which were amongst his faults. He should not have cared just then to ask what I thought, or what anybody thought; but he did care, and he was too natural to conceal, too impulsive to repress his wish. Well! If I blamed his over-eagerness, I liked his naiveté."

Im Gegensatz zu Mme Beck, die nie ihre eigenen Charakterzüge in ihren Repliken thematisiert, charakterisiert M. Paul sich in einigen seiner von Lucy wiedergegebenen Repliken explizit selbst. So betont M. Paul in folgendem Zitat die Unterschiede seines und Lucys Voraussetzungssystems und weist gleichzeitig auf deren Affinitäten hin.

"You are patient, and I am choleric; you are quiet and pale, and I am tanned and fiery; you are a strict Protestant, and I am a sort of lay Jesuit: but we are alike - there is affinity. [...] Do you observe that your forehead is shaped like mine - that your eyes are cut like mine? Do you hear that you have some of the tones of voice? Do you know you have many of my looks?"

Als weiteres Beispiel M Pauls expliziter Selbstcharakterisierung soll die Wiedergabe des folgenden Dialoges zwischen Lucy und M. Paul dienen:

"’Mademoiselle, you know little of me; I can be embarrassed as a petite pensionnaire; there is a fund of modesty and diffidence in my nature.’
‘Monsieur, I never saw it.’
‘Mademoiselle, it is there. You ought to have seen it.’
‘Monsieur, I have observed you in public - on platform, in tribunes, before titles and crowned heads - and you were as easy as you are in the third division.’
 ‘Mademoiselle, neither titles nor crowned heads excite my modesty; and publicity is very much my element. I like it well, and breathe in it quite freely; but - but - in short, here is the sentiment brought into action, at this very moment."

Als letztes erzähltechnisches Mittel der Perspektivendarstellung M. Pauls sei hier die explizite Fremdcharakterisierung genannt. Ginevra Fanshawe bezeichnet ihn als "hideously plain" , Mme Beck und Père Silas, deren Aussagen jedoch durch deren Beweggründe unglaubwürdig erscheinen, informieren ebenfalls über M. Pauls Vorgeschichte und Charaktereigenschaften.

 

2.2.3   Perspektiveninhalte und Dynamik der Perspektive John Graham Brettons

Graham Bretton stellt einen Charakter dar, der sich durch Humor, Offenheit und Großzügigkeit auszeichnet. Wie er selber von sich sagt, ist er ein "cheerful fellow by nature" . Er lebt zusammen mit seiner Mutter und ist erst durch seine Verwurzelung in der Tradition des Ortes Bretton, dann durch seine Tätigkeit als Arzt, respektierter und integrierter Teil der Gesellschaft. Er ist ein gütiger und gefühlsbetonter Mensch, der jedoch zunächst nicht in der Lage ist, die Gefühle anderer Menschen einzuschätzen um sich selbst vor Enttäuschungen zu schützen. In dieser Hinsicht erscheint er unselbstständig und bedarf deshalb Lucys als "sincere well-wisher", die ihm die Augen öffnet und ihn dazu animiert, seine eigenen Gefühle und zwischenmenschlichen Beziehungen zu reflektieren.

"‘Dr Bretton, [...] there is no delusion like your own. On all points but one you are a man, frank, healthful, right-thinking, clear-sighted: on this exceptional point you are but a slave. I declare, where Miss Fanshawe is concerned, you merrit no respect; nor have you mine.’"

Im Laufe der Erzählung wird deutlich, daß Grahams psychologische Disposition sich ändert. Er erkennt seine Unzulänglichkeit, reflektiert seine Beweggründe und zeichnet sich so als dynamischer Charakter aus. Das folgende Gespräch zwischen Graham und Lucy dokumentiert diese Entwicklung eindrucksvoll:

"’I do not give way to melancholy.’ [Graham]
 ‘Yes: I have seen you subdued by that feeling.’
 ‘About Ginevra Fanshawe - eh?’
 ‘Did she not sometimes make you miserable?’
 ‘Pooh! stuff! nonsense! You see I am better now.’
 [...] ‘You do not look amiss, or greatly out of condition,’ I allowed.
 ‘And why, Lucy, can’t you look and feel as I do - buoyant, courageous, and fit to defy all the nuns and flirts in Christendom? I would give gold on the spot just to see you snap your fingers. Try the manoeuvre.’
 ‘If I were to bring Miss Fanshawe into your presence just now?’
 ‘I vow, Lucy, she should not move me: or she should move me but by one thing - true and passionate love. I would accord forgiveness at no less price.’
 ‘Indeed! a smile of hers would have been a fortune to you a while since.’
 ‘Transformed, Lucy: transformed! Remember, you once called me a slave! But I am a free man now!’"
 

Ferner erscheint Graham auch durch die Darstellung seiner Perspektive als dynamisch, denn Lucys Sicht Grahams ändert sich im Verlauf der Erzählung. "Reader, if in the course of this work, you find that my opinion of Dr. John undergoes modification, excuse the seeming inconsistency. I give the feeling as at the time I felt it; I describe the view of character as it appeared when discovered."  Zur Darstellung Grahams Perspektive ist noch anzumerken, daß Lucy sich neben den bei Mme Beck und M. Paul verwendeten erzähltechnischen Mitteln auch einer besonderen Form der expliziten Fremdcharakterisierung bedient: Sie integriert einen Brief Mrs Brettons in ihre Erzählung, in dem sich ihre Patentante mit der Perspektive Grahams auseinandersetzt.

 

3 Perspektivenstruktur

Die Perspektivenstruktur narrativer Texte konstituiert sich nach Nünning "durch die Beziehung aller Figurenperspektiven zueinander und durch deren Verhältnis zur Erzählerperspektive".  Sie ist ein auf der Kommunikationsebene N3 angesiedeltes Phänomen, die die "Nahtstelle zwischen den Elementen des materialen Textes und dem Rezipienten"  darstellt, auf der "das Potential aller formalen und strukturellen Relationen des Werkganzen theoretisch situiert werden können".  Aus diesem Grund können Aussagen über das Wirkungspotential eines Textes, das Thema des folgenden Kapitels sein wird, nur auf Basis einer Untersuchung der auf N3 realisierten strukturellen Relationen der verschiedenen Einzelperspektiven gemacht werden. In den nun folgenden Unterkapiteln soll gezeigt werden, mit welchen Mitteln die verschiedenen Einzelperspektiven in Villette zueinander in Relation gebracht werden.

 

3.1  Selektion und Kombination von Figurenperspektiven

Eine Betrachtung der Selektion und Kombination von Figurenperspektiven gibt Aufschluß über die Komplexität der Perspektivenstruktur, das Maß der perspektivischen Brechung der erzählten Welt sowie über die Gewichtung und Konkretisierung der Figurenperspektiven. Nünning unterscheidet hier zwischen einer paradigmatischen und einer syntagmatischen Dimension der Selektion und Kombination.

Die paradigmatische Dimension besteht in der Auswahl der Figurenperspektiven und läßt sich durch "den quanitativen Aspekt des Umfangs und [...] den qualitativen Aspekt der Streuung des Angebots der Figurenperspektiven charakterisieren".  In unserem Fall liegt eine komplexe Perspektivenstruktur vor, die durch die Anzahl von zehn verschiedenen Figurenperspektiven plus eine Erzählerperspektive einen hohen Grad der perspektivischen Brechung der erzählten Welt aufweist.  Das qualitative Spektrum der dargestellten Perspektiven ist trotz der hohen Anzahl der dargestellten Perspektiven nicht sehr breit. Die meisten der Figuren in Villette gehören der gleichen sozialen Klasse an, der bürgerlichen Mittelschicht. Die Ausnahme bildet Lucy Snowe, die sich als quasi mittellose Waise ohne Verwurzelung mit der sie umgebenden Gesellschaft erst einen Platz in derselben erkämpfen muß. Kulturell ist der Grad der Streuung höher: Das Personal läßt sich in zwei Gruppen einteilen: die englischen Protestanten und die Katholiken aus dem fiktiven Labassecour.

Die syntagmatische Dimension der Selektion und Kombination der Figurenperspektiven besteht in der Zuordnung und Korrelation der Perspektiven, die durch die Kontrast- und Korrespondenzrelationen bestimmt ist, die zwischen den Perspektiven bestehen. Für ein Verständiss der Gewichtung der Figurenperspektiven und somit der Kontrast- und Korrespondenzrelationen, die zwischen den Figurenperspektiven herrschen, ist eine Betrachtung der Ausgestaltung der Perspektive der Erzählerin wichtig, die als "übergeordneter Orientierungspunkt eine wesentliche Integrationsinstanz darstellt".

 

3.2  Grad der Ausgestaltung der Erzählerperspektive

Die autodiegetische Erzählerin Lucy Snowe setzt sich in ihrer Erzählung mit der Entwicklung ihres früheren Ichs, der Figur Lucy Snowe, auseinander. Durch ihre fast ausschließlich chronologische Beschreibung der Ereignisse sowie der Darstellung der Bewußtseinsvorgänge der Figur Lucy vermittelt sie den Rezipienten nach und nach Informationen über die Inhalte ihrer Perspektive. Die Erzählerin Lucy beschreibt und kommentiert die Bewußtseinsvorgänge und Reaktionen der Figur Lucy angesichts sich ständig ändernder Situationen. Dadurch zeichnet sie ein genaues Bild ihres Voraussetzungssystems, dessen Dynamik in der Darstellung der großen Anzahl der Situationen und Figuren, mit denen sich die Figur Lucy auseinanderzusetzen hat, begründet ist. Die Erzählerin Lucy setzt sich zwar kritisch und explizit mit den Perspektiven der anderen Figuren auseinander, kritisiert aber die Perspektive der Figur Lucy nie. Sie beschreibt zwar die Entwicklung ihres Voraussetzungssystems, dessen wesentliche Parameter Rationalität, Fähigkeit zur Empathie, Geduld, Leidensfähigkeit und das Bedürfnis nach Geborgenheit und Integration in die Gesellschaft jedoch im Laufe der Erzählung konstant bleiben. Die einzigen Aspekte, die die Perspektivendiskrepanz zwischen dem erzählenden und erlebenden Ich ausmachen, sind der Informationsstand und der Erfahrungshorizont Lucys. Deshalb kann die Perspektive der Figur Lucy und die der Erzählerin Lucy mit Ausnahme dieser Aspekte als identisch betrachtet werden.

Die Erzählerin Lucy ist ein self-conscious narrator, die sich explizit mit den Parametern der Perspektiven der anderen Figuren auseinandersetzt und durch häufige Hinwendungen an die Rezipienten Sympathie- sowie Antipathiewerbung für die Figuren betreibt. Dies ist im Hinblick auf die Gewichtung der Perspektiven von Bedeutung. Durch ihre Kommentare bestimmt sie den Grad der Zuverlässigkeit einer Figurenperspektive und kann Figurenperspektiven privilegieren oder diskreditieren.  Da die Rezipienten die fiktive Welt primär durch Lucys Wirklichkeitsmodell gefiltert vermittelt bekommen, auf dessen Basis sie die fiktive Welt beschreibt, finden sie sich zwangsweise auf Lucys Seite.  Deshalb verliert eine Figur in dem Maße an Gewicht bei der Konstituierung der Perspektivenstruktur, je mehr die Perspektivenparameter dieser Figur durch Lucys Wertung diskreditiert werden.
Lucy diskreditiert zum Beispiel die Perspektiven Mme Becks, Ginevra Fanshawes, Mme Walravens und Père Silas. Mme Becks scheinbar positiven Perspektivenparameter ‘Güte’, ‘Schlauheit’ und Vernunft’ werden von Lucy nachträglich in ein negatives Licht gestellt, indem Lucy Mme Becks bösartigen Egoismus als primär handlungsmotivierendes Moment offenlegt. Mme Beck versucht durch Anwendung skrupelloser Mittel M. Paul und Lucy voneinander fernzuhalten, denn "[the] thing [ihre Hochzeit mit M. Paul]she could not obtain, she desired not another to win; rather would she destroy it".  Ginevra Fanshawes Perspektive wird durch die gesamte Erzählung hindurch von Lucy kritisiert. Sie fungiert in der Erzählung als Gegenbild zu Lucy, denn Ginevra vereint all die Charaktereigenschaften in ihrer Person, die Lucy verabscheut.

Die Perspektiven Mrs. Brettons, Grahams, Miss Marchmonts und M. Pauls werden dagegen durch Lucys Darstellung privilegiert. Einige Perspektivenparameter M. Pauls und Grahams kritisiert Lucy zwar auch, aber in beiden Fällen erfolgt eine Korrektur der kritisierten Aspekte im Sinne einer Annäherung an Lucys Perspektiveninhalte.

 

3.3  Grad der Integrativität der Einzelperspektiven

Um den Grad der Integrativität der Einzelperspektiven eines Textes erschließen zu können, ist es notwendig, einzelne Parameter der Einzelperspektiven aufzuschlüsseln, um die Kontrast- und Korrespondenzrelationen herausarbeiten zu können. Da eine detaillierte Aufschlüsselung dieser Parameter den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, soll die folgende Darstellung auf einige wichtige beschränkt werden.

Die Figuren unterscheiden sich z.B. durch den Parameter des Erfahrungshorizontes, der in Lucys Fall von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung ihres Voraussetzungssystems angesehen werden kann. So können Figuren danach unterschieden werden, inwiefern sie Lucys Erfahrung der sozialen und emotionalen Isolation teilen. Als in dieser Beziehung mit Lucys Perspektive korrespondierende Figuren wären zu nennen Mme Beck, die nicht in der Lage ist, emotionale Beziehungen aufzubauen, offensichtlich darunter leidet aber durch ihre Arbeit in das sie umgebende soziale Gefüge integriert ist und M. Paul, der ebenfalls sozial integriert ist, aber die emotionale Isolation freiwillig zu wählen scheint. Kontrastierende Figuren sind Ginevra Fanshawe, die durch Schönheit und reiche Bekanntschaften nicht unter Einsamkeit zu leiden hat, sowie die Gruppe der Figuren Graham, Mrs Bretton, Paulina und Mr. Home, die durch ihre (inter)familiären Bindungen sowie durch fest definierte Positionen in die Gesellschaft integriert sind.

Ein weiterer Perspektivenparameter, an dem sich die Kontrast- und Korrespondenzrelationen zwischen den Einzelperspektiven festmachen lassen ist der Faktor der Leidensfähigkeit einer Figur/Erzählerin. Lucy Snowe, M. Paul und Mme Beck sind Figuren, die in Bezug auf ihre Fähigkeit, Leid zu ertragen, konvergieren, obwohl alle drei unterschiedliches Leid erfahren und auf verschiedene Arten diese Erfahrung verarbeiten. Lucy leidet unter ihrer Isolation und an der scheinbaren Ausweglosigkeit, entgegen den gesellschaftlichen Normen dennoch in die Gesellschaft integriert werden zu können. Sie verarbeitet diese Erfahrung, indem sie die Situation erkennt, rational und situationsbezogen handelt und mit Geduld, Selbstdiziplin und Hoffnung, die ihr durch ihren christlichen Glauben gegeben wird, solange durchhält, bis sie am Ende der Erzählung den erstrebten Platz in der Gesellschaft erhält. M. Pauls Leiden ist anderer Natur. Er leidet an dem Verlust seiner großen Liebe, die er bedingt durch die auf gesellschaftliche Normen (und Geld) bedachte Mutter und Schwiegermutter nicht heiraten konnte. Wie auch Lucy bewältigt M. Paul sein Leiden auf positive Weise: Er nimmt sich der mittlerweile verarmten Mutter und Schwiegermutter an und ergeht sich in Wohltätigkeit und Selbstaufgabe. Die Kraft dafür schöpft er wie Lucy aus seinem Glauben. Mme Beck leidet wie Lucy unter emotionaler Isolation aufgrund der Unmöglichkeit einer Heirat mit M. Paul. Anderes als Lucy und M. Paul ist sie jedoch nicht in der Lage, die Erfahrung des Leides auf positive Weise in ihr Leben zu integrieren. Sie läßt sich nichts anmerken und überspielt ihr Leid, anstatt sich mit ihm auseinanderzusetzen. Im Gegenteil richtet sie ihre aufgestauten Emotionen gegen M. Paul und Lucy, deren Zusammenkommen sie auf skrupellose und eifersüchtige Art zu verhindern versucht. Im Kontrast zu dieser Gruppe stehen Ginevra Fanshawe, die durch ihre quengelige, ungeduldige und unruhige Art von Lucy eine "entire incapacity to endure"  bestätigt bekommt, sowie Graham Bretton, der unter den Zurückweisungen Ginevras zu leiden hat, damit aber nur durch Lucys Hilfe zurechtkommt.

Als letztes Beispiel für kontrastierende und konvergierende Perspektivenparameter sei hier die Fähigkeit zur Empathie aufgeführt. In Bezug auf die Empathiefähigkeit konvergieren die Perspektiven Lucy Snowes, Mrs Brettons, M. Pauls, Paulinas und Grahams. Kontrastiv dagegen stehen Mme Beck, Ginevra Fanshawe und Madame Walraven.

Ein Konvergenzpunkt, der allen Einzelperspektiven gemein wäre, läßt sich nicht ausmachen, wohl aber lassen sich Aspekte der Erzählerperspektive, die das zentrale Orientierungszentrum der Perspektivenstruktur darstellt, in den Figurenperspektiven wiederfinden. Auffällig ist die diametrale Entgegensetzung der Perspektiven der Figuren Lucy Snowe und Ginevra Fanshawe, die in dem Sinne einen gemeinsamen Konvergenzpunkt aufweisen, als das Ginevras Perspektive in jedem Aspekt das genaue ‘Spiegelbild’ Lucys Perspektive darstellt.

 

4 Wirkungspotential der Perspektivenstruktur

Das Wirkungspotential des Textes erschließt sich über eine Betrachtung der Perspektivenstruktur auf N3, die primär durch die als Normrepräsentantin und übergeordnete Orientierungsinstanz fungierende dominante Perspektive der Erzählerin Lucy Snowe bestimmt wird. Lucy kritisiert in der Beschreibung ihres Lebens durch generalisierende Aussagen und durch ihre Variation der Konventionen der Gattung ‘Bildungsroman’ die gesellschaftlichen Normen, die ihrer natürlichen Entwicklung im Wege stehen. Sie kann sich ebensowenig wie "thousands besides"  kontinuierlich entwickeln, sondern ist Spielball der Umstände, die einerseits durch ihren Status als Waise bestimmt sind, andererseits aber auch durch die fehlenden Betätigungsmöglichkeiten für Frauen außerhalb des traditionellen Betätigungsfelds innerhalb einer Familie, in der "a great many women and girls"  wie eine "bark, slumbering through halcyon weather, in a harbour still as glass"  leben. Während im traditionell Bildungsroman ein männlicher Hauptprotagonist eine progressive, kontinuierliche und teleologische Entwicklung durchläuft, schildert Lucy die Sprunghaftigkeit ihrer Entwicklung, die bedingt ist durch die "Einschränkung des gesellschaftlichen Bewegungsspielraumes" , unter der sie zu leiden hat.  Durch dieses Aufzeigen der Gründe für die Sprunghaftigkeit ihrer Entwicklung schafft sie einen Beurteilungskontext, der potentiell dazu in der Lage ist, die Rezipienten für die Problematik geschlechtsspezifischer Rollenzwänge zu sensibilisieren.

Lucys Kritik der mangelnden Leidensfähigkeit vieler Menschen, die sie am Beispiel Ginevra Fanshawes verdeutlicht, hat gepaart mit der Darstellung ihres eigenen Durchhaltevermögens quasi appellative Funktion und ist somit relevant für die Ausformulierung potentieller Wirkungen des Romans.

Ferner betont Lucy durch die Darstellung verschiedener subjektiver Wirklichkeitsmodelle die Relativität jeder Wirklichkeitssicht und sensibilisiert somit potentiell die Rezipienten, bei der Bewertung anderer Menschen nicht die komplexen kultur- und subjektabhängigen Faktoren deren individueller Wirklichkeitssicht zu vernachlässigen. Als Beispiel für eine solche übereilte und auf Stereotypen basierende Bewertung fungieren Père Silas und M. Paul, die beide voller Vorurteile gegenüber Protestanten sind, wobei letzterer jedoch im Laufe der Erzählung durch genaue Beobachtung der Lucys Wirklichkeitsmodell bestimmenden Faktoren seine ursprüngliche Abneigung ablegt.
 
 
 

5 Bibliographie

Primärliteratur

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Sekundärliteratur

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Nünning, Ansgar (Hg). 1996. Eine andere Geschichte der Englischen Literatur. Epochen, Gattungen und Teilgebiete im Überblick. Trier: WVT.

-----. 1989. Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung. Die Funktionen der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots. Trier: WVT.

Todd, Janet (Hg). 1980. Gender and Literary Voice. New York: Holmes and Meier.

Vicinus, Martha (Hg). 1977. A Widening Sphere. Changing Roles of Victorian Women. London: Methuen.

Watzlawick, Paul. 1969. Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien.4 Stuttgart: Verlag Hans Huber.

Würzbach, Natascha. "Variationen zum Thema ‘weibliche Entwicklung’ in den Romanen von George Eliot: Ein Beitrag zur Diskussion des weiblichen Bildungsromans." In: Fischer-Seidel, Therese (Hg). 1991. Frauen und Frauendarstellung in der englischen und amerikanischen Literatur. Tübingen: Gunter Narr Verlag.