#!/usr/bin/perl print qq§Content-Type: text/html §;

 

Christian Steltz

Proseminar: Thomas Mann, „Der Zauberberg“

 

 

Die Zukunft der Berghofgäste

 

Ein Vergleich zwischen den Romanen „Der Zauberberg“ von Thomas Mann und Frederic Tutens „Tim und Struppi in der Neuen Welt“

 

 

 

Inhaltsangabe

 

1. Die Protagonisten: Mittelmaß wird durch Einzigartigkeit ersetzt                                                                                            S.2

 

 

 

2. Die Erzieher des Zauberbergs

 

2.1. Settembrini und Naphta sind ohne Einfluß auf den „neuen Hans Castorp“                                                                                         S.6

 

 

2.2. Was Tuten über Mynheer Peeperkorns Jugend enthüllt         S.7

 

 

3. Die Verführung in Person – Clawdia Chauchat                 S.10

 

 

 

4. Das Beziehungsgeflecht um Tim, Madame Chauchat und Peeperkorn                                                                                  S.11

 

 

 

5. Der Jaguarprinz                                                                     S.13

 

 

 

 

 

 

 

 

 

  So wie Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ klassische Motive und Handlungen der Weltliteratur in sich vereinigt, dient er späterenWerken

ebenfalls als Vorlage. Ein Roman, der sehr eng am „Zauberberg“ orientiert ist, ist Frederic Tutens „Tim und Struppi in der Neuen Welt“. Die >Schwäbische Zeitung< bezeichnet diesen Roman als „eine Provokation für Thomas-Mann-Fundamentalisten und eine Pflichtlektüre für Tim-und-Struppi-Fans". Diese

Einstufung ist unzureichend, da es Frederic Tuten gelungen ist, einen eigen-

ständigen Abenteuerroman zu schreiben, der selbst denjenigen, die weder

den „Zauberberg" noch die Comic-Helden Tim und Struppi kennen, Lese-

vergnügen bereiten kann. Folgend werden die wesentlichen Gemeinsamkeiten

und die bedeutenden Unterschiede zwischen den beiden Romanen gekenn-

zeichnet.

 

 

Die Protagonisten: Mittelmaß wird durch Einzigartigkeit ersetzt

 

 In beiden Romanen wird der Reifeprozeß eines jungen Mannes beschrieben.  An die Stelle des Ingenieurs Castorp,  der zwar simpel und für sich alleinstehend, ohne die Geschichte, die ihm zustieß, unbedeutend ist, aber trotzdem die Zuneigung des „Zauberberg“-Lesers für sich gewinnen kann, stellt Frederic Tuten eine bemerkenswerte, bereits bekannte Persönlichkeit. Im Mittelpunkt seiner Geschichte steht der junge Reporter und Detektiv Tim. Tim ist der Protagonist der Comic-Reihe „Tim und Struppi“ des französischen Zeichners Hergé; eine junger Mann also, der in besonderem Grade

herausragend ist und der mit seinem Scharf- und Gerechtigkeitssinn bereits viele Abenteuer aufrecht und furchtlos gemeistert hat.

  Die beiden jungen Männer teilen eine grundlegende Eigenschaft; Tim ist ebenso wie Hans Castorp Vollwaise. Auch die Tatsache, daß Tim in dem alten Seefahrer Kapitän Haddock eine eher ungewöhnliche Bezugsperson hat, ist in Tutens Werk kein Gegensatz zu Hans Castorp. Der Kapitän gibt seinem jungen Weggefährten bürgerliche Ratschläge für das Leben mit auf den Weg, die die bürgerlichen Ideale von Hans Castorps Großonkel, dem Konsul Tienappel, formulieren: „Mir fehlt dies Frauchen, das ich nun niemals mehr bekommen werde. Die Karten meines Lebens sind gezeichnet – zu spät, den Kurs noch zu ändern -, doch dann und wann wünsche ich, ich hätte vorgesorgt für einen warmen, sicheren Hafen am Ende der Fahrt. Aber für Sie bleibt noch Zeit genug, die häuslichen Freuden zu genießen, die ich entbehren muß“(S.14f). Auf beiden Jünglingen ruht das Auge der Öffentlichkeit, sie gelten als vielversprechend. Für Hans Castorp bedeutet die Erwartungshaltung seiner Familie eine Belastung, weshalb er selber bei seiner Berufswahl in den Hintergrund tritt und die Pläne, die sein Vormund für ihn schmiedet, annimmt. Deutlich abzulesende Eigenschaften Hans Castorps zu Beginn des Zauberbergs sind geistige Ungefestigkeit, die ihn empfänglich für Ideen und Gedankengüter macht, und Orientierungslosigkeit, die erst durch Fremdbestimmung aufgelöst wird. Darin liegt der große Unterschied zwischen ihm und Tim. Der Reporter ist eigenständig; er hat seine eigenen Vorstellungen vom Leben und verfolgt seine eigenen Ziele. Tim ist in seiner Persönlichkeit bereits so gefestigt, daß Bemühungen von außen pädagogisch auf ihn einzuwirken, wie Kapitän Haddock sie unternimmt, erfolglos bleiben. In seinem Beruf als Reporter verfolgt er seine persönlichen Ziele und widersetzt sich somit einer Unterwerfung im Berufsleben. Seine Ziele sind von einfacher Natur, dafür wie ein moralischer Kompaß in ihm verwurzelt; so gibt er auch Kapitän Haddock zu verstehen:

„Was soll ich machen? Ich spüre diesen Drang in mir, etwas zu unternehmen, diese Welt in Ordnung zu bringen“ (S.13).

In diesem Bewußtsein liegt die Naivität der Comic-Welt, der Tim entspringt. Wer die Welt in Ordnung bringen will, muß zuerst einmal die unordentlichen Elemente erkennen, was bei den verflochtenen Machtverhältnissen in der Welt äußerst kompliziert ist. Tims Aussage ist Resultat einer kindlichen Sichtweise der Dinge, die lediglich in zwei Kategorien unterteilt: Gut und böse. Die Naivität des Protagonisten ist auch in seiner äußeren Erscheinung verarbeitet, nämlich in der Tatsache, daß Tim im Alter von zwölf Jahren, seit seine Mutter starb, aufgehört hat zu wachsen.

 

 Die Schlußfolgerung, daß eine spezielle Figur wie der Comic-Held Tim nicht unbedingt eine besondere Geschichte erleben muß, um Anlaß für ein Buch zu geben, und daß es sich bei „Tim und Struppi in der Neuen Welt“ um eine Errettung der Welt handelt, wie sie in der Comic-Serie mehrfach vorkommt, ist ein Trugschluß. „Der Zauberberg“ ist eine Geschichte, die viele Menschen hätten erleben können. Hans Castorp ist nur bedeutend, da sie gerade ihm

widerfuhr. „Tim und Struppi in der Neuen Welt“ hingegen ist das außergewöhnliche Schicksal eines außergewöhnlichen Mannes. Das Romanabenteuer, in das Tuten seinen Helden schickt, ist für Tim ein anderes Unternehmen als die gewohnten Abenteuer; es ist für ihn eine Begegnung mit sich selbst.

 Hans Castorp gelangt am Ende seines Reifeprozesses zu Selbsterkentnissen;

die innere Handlung zu einem Endergebnis. Hans Castorp wird sich seiner

Todessehnsucht bewußt:

„Welches war diese dahinter stehende Welt, die seiner Gewissensahnung

zufolge eine Welt verbotener Liebe sein sollte?

Es war der Tod“(S. 896f).

Diesen Lernprozeß aufnehmend handelt es sich in Tutens Werk ebenso um eine Selbstbegegnung, wie Kapitän Haddock auf  Seite 13 vorausahnt:

„Mein Junge, bleiben wir auf Kurs. Was Ihnen fehlt, ist keine Reise. Ich fürchte, es ist eine Unvollkommenheit, die in ihnen selbst steckt.“

 

 Der Leser findet Tim zu Beginn des Romans in einem Stadium seines Lern- und Wachstumsprozesses vor, das dem Hans Castorps und seiner Berghofgefährten im Kapitel „Der große Stumpfsinn“ entspricht. Eine nähere Untersuchung der vielartigen Tätigkeiten und Unternehmungen, mit denen die Gäste des Berghofs die Zeit kurzweilig zu gestalten versuchen, führt zu einer These: Das stumpfsinnige Treiben ist Ersatzhandlung im Freudschen Sinne. Diese These ist eine mögliche Sichtweise, wenn man im Einzelbeispiel des Staatsanwalt Paravant Ursachenforschung betreibt. Nachdem die Ägypterin, für die Paravant mehr als nur Sympathie, namentlich Liebe, empfindet, das Sanatorium verläßt, wendet er sich von den allgemein betriebenen Geschäftigkeiten ab und widmet sein ganzes Wesen einem Gegenstand, der für ihn zur Besessenheit wird: Der Mathematik. Ähnlich steht es um Hans Castorp.

Clawdia Chauchat hat nach Peeperkorns Selbstmord die Kurklinik verlassen, und zum Mittelpunkt in Castorps Existenz, es handelt sich nicht mehr um Leben, wird ein Kartenspiel, die Elferpatience. Folglich läßt sich vermuten, daß auch hinter den anderen Trendbeschäftigungen im Haus Berghof verdrängte Liebe steht. Das Photografieren, das die Einrichtung eigener Dunkelkammern nach sich zieht, das leidenschaftliche Briefmarkensammeln, die Bewegung, in der es als sehr schick gilt, Schokoladensorten anzuhäufen und zu verzehren, das Schweinchenzeichnen und die Gespräche in der Modesprache Esperanto, all dies sind dieser These nach Ersatzhandlungen. Dies entspricht der Auffassung Dr.Krokowskis, der in seiner Vortragsreihe die Kernthese „das Krankheitssymptom sei verkappte Liebesbetätigung und alle Krankheit verwandelte Liebe“ vertritt, weil das Kartenlegen für Hans Castorp unnormalen Stellenwert erlangt, und dieses manische Verhalten krankhaft ist. Dieser Auffassung ist auch Frederic Tuten, was in seinem Roman ganz deutlich wird. Er beschreibt Tim in derselben Stimmungslage wie Hans Castorp. Zu seinen Betätigungen zählt die Pferdezucht, die Sternkunde und der Erwerb von Kunstgegenständen. Tims Vormund Kapitän Haddock sieht in der Liebe den Ausweg aus dem Stumpfsinn: „Tim, mein Junge, wenn Sie lernten, Scotch zu trinken und die Frauen zu lieben, dann hätten auch Sie etwas, woran Sie sich im Alter erinnern und was Ihnen ein Trost sein könnte!“(S.12). Die Verbindung von Liebe und Alkohol in diesem Ratschlag erinnert an Mynheer Peeperkorn, dessen Alkoholismus auf sein (körperliches) Versagen in der Liebe zurückzuführen ist. Neben diesem Aspekt besteht eine rein oberflächliche Gemeinsamkeit zwischen den beiden Männern in der Tätigkeit von Tims Vormund, Haddock ist jahrelang zur See gefahren und trägt den Titel Kapitän. Peeperkorns kräftige Hände werden im „Zauberberg“ oftmals als „Kapitänshände“ bezeichnet. Dies sei nur als Randnotiz erwähnt, da es nicht so bedeutsam ist wie die inhaltliche Verbindung von Liebe und Alkohol. Daß Peeperkorns Impotenz die Ursache für seine Trunksucht ist, erkennt der „Zauberberg“-Schüler Hans Castorp und äußert sich dementsprechend gegenüber Frau Chauchat auf der Seite 821: „... sie [gemeint sind Sorgen und Schwierigkeiten] resultieren natürlich aus seiner Ehrenpuschel, aus seiner Angst vor dem Versagen des Gefühls, die ihn die klassischen Hilfs- und Labungsmittel so lieben läßt, - ...“. Die Labungsmittel, von denen hier die Rede ist, sind Genever und Wein, bei denen die majestätische Figur Zuflucht sucht. An dem mahlzeitlich wiederkehrenden Ausspruch „Jetzt labt Pieter Peeperkorn sich mit einem Schnaps“ wird zum einen seine Herrschernatur, er spricht von sich in der dritten Person Singular, und zum anderen das Stadium seiner Trinkerkarriere verdeutlicht, da er zu jedem Mittag- und Abendessen alkoholische Getränke zu sich nimmt. Jene bewiesene Flucht vor der Liebe in den Alkoholismus nimmt Tuten in der Figur des Seefahrers Haddock auf, was für „Zauberberg“-Kenner durchaus amüsant sein kann, wie z.B. das Gespräch zwischen Tim und Haddock auf Seite 15: „Wenn nicht der Tod die Liebenden trennt, dann ist es etwas anderes, ein Krieg oder Tb. Kummer heißt die Lektion der Liebe – was habe ich also zu gewinnen in diesem Jammertal der tränenden Rosen?“ Das läßt den alten Seebären stutzen, so daß er nichts erwidert, sondern fragt, wo er seine Flasche hingestellt habe. Während die zweite Parallele der Unterhaltung dient, ist die erste, die ,daß sich beide jungen Männer in einer Phase des um sich greifenden Stumpfsinnes befinden, von wesentlicher Bedeutung für beide Romane. Die Situationen unterscheiden sich lediglich in der Verfassung der Protagonisten. Hans Castorp hat resigniert, er hat keine Perspektive mehr, Gedanken ans Abreisen faßt er nicht mehr, sein Zeitgefühl ist ihm gänzlich abhanden gekommen. Das Elend seiner Lage ist auf Seite 863 zusammengefaßt: „Hans Castorp blickte um sich... Er sah durchaus Unheimliches, Bösartiges, und er wußte, was er sah: Das Leben ohne Zeit, das sorg- und hoffnungslose Leben, das Leben als stagnierende betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben.“ Tim hingegen hat sich nicht aufgegeben. Neugierde und Abenteuerlust halten ihn am Leben. Während es Castorp zu dem Zeitpunkt in „Der große Stumpfsinn“ bereits gleichgültig ist, was er tut, ihm ist genau genommen alles egal, ist Tim in der Lage seine Ansichten klar auszuformulieren:„Ich habe genug vom Lesen, genug von langen Spaziergängen, genug von friedlichen Abenden vor dem Feuer. [...] Kein einziges Abenteuer, keine Heldentat seit Ewigkeiten. Ich bin zu jung, um so lange stillzusitzen“(S.11f). Daß Tim von „Ewigkeiten“ spricht, heißt nicht, daß auch er das Zeitempfinden verloren hätte. Anders als Hans Castorp rechnet Tim die Zeit noch in den gewöhnlichen Einheiten:„Wissen Sie eigentlich, daß schon ein Jahr seit unserem letzten Abenteuer vergangen ist?“ Ansonsten befinden sich beide im selben Stadium des Reifeprozesses.

 

 Thomas Mann läßt Hans Castorp gegen Ende des Romans in den Wirrungen des Ersten Weltkrieges verschwinden. Aus eigener Kraft wäre der Patient nicht mehr in der Lage gewesen, sich vom „Zauberberg“ zu lösen. Elementare Außenmächte führen ihn zurück ins Flachland und befreien ihn somit aus dem stumpfsinnigen Leben. Elementare Außenmächte sind es auch, die Tim aus seiner Lethargie reißen; namentlich ein Brief aus Brüssel. Die Briefe des Absenders aus der „Avenue du Vert Chasseur“ spielen in den „Tim und Struppi“-Comics eine schicksalhafte Rolle, sie enthalten stets Anweisungen, die Tim den Weg zu seinen Unternehmungen weisen. Der unbekannte Schreiber der Briefe ist für Hergé, dem Schöpfer der Comic-Reihe, eine Möglichkeit selbst in Erscheinung zu treten. In dem Brief, der den Kinderdetektiv aus seiner abenteuerfreien Phase zu Beginn des Romans erlöst, fordert der Absender Tim auf, nach Machu Picchu in Peru zu reisen. Weiter lobt er die Tugendhaftigkeit seines Schützlings und beschreibt sein Verhältnis zu ihm: „Stets sind Sie aufrecht und furchtlos gewesen. Ich könnte nicht mehr von Ihnen wünschen, wären Sie mein eigen Fleisch und Blut und nicht nur das Geschöpf meiner Träume“(S.17). Mit der Bitte, Tim möchte nun seinem vorbe-stimmten und doch beeinflußbaren Weg folgen, schließt der Brief, und Tim macht sich in Begleitung des Kapitäns und seines Terriers auf den Weg.

   

 In dem Reiseziel der Gruppe findet sich eine weitere Parallele zum „Zauberberg“.  Aus dem Sanatorium „Berghof“ ist zwar ein gewöhnliches Hotel geworden, dennoch ist ein Vergleich angebracht, da Machu Picchu zweitausend Meter über dem Meeresspiegel liegt, ähnlich erhöht wie Davos. In diesem Hotel in den peruanischen Anden halten sich dem Kenner des Zauberbergs bekannte Figuren auf. Sehr interessant bei diesem Wiedersehen ist, wie sich Tuten die Zukunft wie auch die Vergangenheit der Charaktere ausmalt.

 

 

 

 

 

 

 

 

2. Die Erzieher des Zauberbergs

 

2.1. Settembrini und Naphta sind ohne Einfluß auf den „neuen Hans Castorp“

 

 Zwei der Personen, die Tim in den Anden kennenlernt, sind Lodovico Settembrini und Leo Naphta. Der im Zauberbergkapitel „Satana“ eingeführte Oppositionsmann Settembrini wird von den Lesern verschieden eingeordnet. Einige sehen in dem schönheitliebenden Italiener, der sich höchst poetisch in der deutschen Sprache auszudrücken weiß, die positivste Erscheinung in Thomas Manns Roman. Seine Wertschätzung für die Menschenrechte, die persönliche Freiheit des Einzelnen, für die Persönlichkeit und die Einzigartigkeit des Menschen heben ihn tatsächlich positiv hervor. Allerdings ist es von großer Bedeutung, daß er in seinem erzieherischen Verhältnis zu Hans Castorp scheitert, was den Glanz seiner Person erheblich vermindert. Das pädagogische Ziel, den jungen Ingenieur zu einer Rückkehr ins Flachland zu bewegen, damit er dort in seiner Tätigkeit dem Fortschritt der Menschheit diene, erreicht der Humanist nicht. Ohne das Einwirken des Krieges, ohne die Fremdbestimmung also, ist Castorps Verlassen des Berghofs undenkbar. In „Tim und Struppi in der Neuen Welt“ fungiert der Schönredner nur als Statist; zu Tim steht er in keiner pädagogischen Beziehung, womit er seiner aktiven Rolle beraubt ist. Grundlegende Charakterzüge, die ihm geblieben sind, sind der Glaube an den Fortschritt der Menschheit als höchstes Ziel und die

Überzeugung, daß Wohlstand jeden fortschrittlichen Gedanken tötet, weshalb auch Lebensstandard und Mode des Humanisten dieselben sind wie im „Zauberberg“. Auch sein pädagogischer Widersacher, auf Hans Castorp bezogen, Leo Naphta übt in Tutens Roman keinen besonderen Einfluß auf Tim aus. Im Gegensatz zu Settembrini hat Naphta sich seit dem Ersten Weltkrieg grundlegend verändert. Er hat seine Idealvorstellung eines nach wissenschaftlichen Grundsätzen geführten Gottesstaates aufgegeben und nimmt statt dessen die Welt so an, wie sie ist, ohne die Notwendigkeit irgendwelcher Reformen zu sehen. Er ist aus dem Jesuitenorden ausgetreten und hat sich in der Folge eher weltlich betätigt; durch Anlagen in Immobilien und Investmentfonds hat er seinen Wohlstand gesichert. Die philosophischen Diskussionen zwischen Naphta und Settembrini, wie sie im Zauberberg geführt werden, werden auf die gleiche Weise in den südamerikanischen Anden geführt. Von diesen Exkursen bleibt Tim im Gegensatz zu Hans Castorp unbeeindruckt und reagiert dementsprechend  mit Unverständnis. Tuten läßt also Tim so reagieren wie höchst wahrscheinlich viele heutige Leser des Zauberbergs die ausführlichen Dispute der beiden Gelehrten aufnehmen, was Tutens Adaption teilweise humoristische Elemente verleiht. Auf Seite 41 zum Beispiel schaltet sich Tim in ein Gespräch über die politischen Machtverhältnisse in der Welt ein und wird in dieser Szene zum Sprachrohr des Lesers: „Bitte um Verzeihung, meine Herren, aber ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.“ Tim spricht dem Leser aus der Seele, da die Wortgefechte der Gegenredner in Tutens Roman an Eleganz und Inhalt sparen. Tuten reduziert die beiden Zauberberg-Pädagogen auf ihre Oppositionsstellung, was auf Seite 54 den Aspekt der Stillosigkeit betreffend den Höhepunkt erreicht. Naphta nennt Settembrini einen „Scheißdreck“, worauf der Italiener seinen Gegenüber als „gehässigen, buckligen Zwerg“ tituliert, eine Form von Streit, auf die Thomas Mann seine Figuren niemals hätte sinken lassen.

 Wie bereits gesagt üben Settembrini und Naphta keinen Einfluß auf Tim aus, sie belehren ihn nicht wie sie es mit Hans Castorp tun, also muß ihre Funktion in Tutens Roman eine andere sein. Im Verlaufe des Buches arbeitet Tuten die Quellen des Zwistes der beiden Redner heraus. Gegenseitiger Neid treibt die Unstimmigkeiten voran. Tuten sieht das Verhältnis der beiden wie folgt: So wie Settembrini neidisch auf Naphtas Reichtum ist, so wünschte sich jener ein schönes Äußeres wie das des Italieners und die damit verbundene Wirkung. Hinter all den Streitigkeiten und Meinungsverschiedenheiten steht große Zuneigung. Dies wird beiden bewußt und sie tun sich in „Tim und Struppi in der Neuen Welt“ zusammen: „Nun hatten sie sich über das Leben, über Grab und Krematorium, über Alpen und Anden erhoben, standen weit jenseits der Worte, die sie nun nicht länger zu schleudern brauchten. Jetzt, da ihre Polemik und ihre Schmähreden versiegt waren, würden sie nicht mehr darüber streiten, wer der Handlanger Gottes oder des Teufels war, eher schon darüber, wer des Nachts, ihre Beine ineinander verschlungen, der Umarmte und wer der Umarmende sein sollte; in der Liebe würden ihre Gegensätze erneut verschmelzen“(S. 291). Tuten läßt diese ganz Rande, und nur in seiner Zauberberg-Aufnahme existierende, Liebesgeschichte glücklich enden.

 

 

2.2. Was Tuten über Mynheer Peeperkorns Jugend enthüllt

 

 

 Der dritte im Bunde derer, die auf Hans Castorp Einfluß nehmen, ist Pieter Peeperkorn. Im Gegensatz zu den anderen beiden ist Peeperkorns Rolle in Castorps Leben nicht durch erzieherische Bemühungen begründet, sondern resultiert nebenbei aus seiner gebieterischen Art, aus seiner Persönlichkeit, die zum Vorbild wird. Das Wissen der Berghof-Gesellschaft über den majestätischen Kolonialholländer ist dürftig. Größtenteils sind es Gerüchte, die die Runde machen. Peeperkorn, sei durch Kaffeehandel zu einem großen Vermögen gelangt heißt es und er habe eine Villa in Scheveningen und ein prächtiges Haus in Den Haag. Daß das Gerücht um Peeperkorns immensen Reichtum keine bloße Erfindung sein kann, wird von der Tatsache bewiesen, daß Peeperkorn mit seinem Kammerdiener reist und bei sämtlichen Abend- und Ausflugsveranstaltungen der Gastgeber, sprich Geldgeber, ist. Tatsächliche Informationen über Peeperkorns Werdegang eröffnet Thomas Mann im „Zauberberg“ nicht. Allein aus Kommentaren des Holländers wie auf Seite 774 läßt sich schließen, daß die Persönlichkeit in ihrer Vergangenheit nicht den konventionellen Weg gegangen sein kann. Hier sagt er zu Castorp: „Absolut, mein Herr. Erledigt. Ich habe Personen gekannt, Männer und Frauen, Kokainesser, Haschischraucher, Morhinisten – Gut, lieber Freund! Perfekt!“ Wann und unter welchen Umständen Peeperkorn mit diesen Leuten verkehrt hat wird nicht gesagt. Thomas Mann überläßt es dem Leser, sich die offenen fragen über Mynheer Peeperkorn selbst zu beantworten. Woher stammt Peeperkorns großes Wissen über Naturheilkunde? Wo erkrankte er am tropischen Wechselfieber?              

 

  Frederic Tuten nimmt sich in seinem Abenteuerroman die Freiheit, Fragen, die Mann offenläßt, zu beantworten. Peeperkorn erzählt nach einer Mahlzeit von seinem Leben, berichtet von der unbekannten Vor-Berghofzeit, so wie Tuten sie sich ausmalt.

  Peeperkorns Vater war Kapitalist, er betrieb einige kleine Papier- und Textilfabriken. Abgesichert durch den Reichtum seiner Eltern lebte er zunächst ein Leben in Trägheit. Er schlief lange und ging keiner beruflichen Tätigkeit nach. Seine Hauptbeschäftigung war das Ausgeben des Geldes seines Vaters, was ihm spielend gelang. Er sammelte Kunstgegenstände an, ging in die Oper und amüsierte sich mit Frauen, wobei er „das Glück hatte, daß Venus, Eros oder wer sonst für dergleichen Dinge sorgt", ihm stets „wohlgewogen war“(S.180). Bei diesem Teil der Erzählung verläßt Madame Chauchat verärgert den Speisesaal, was allerdings die restlichen Anwesenden nicht davon abhält, auf eine Fortführung der Erzählung zu bestehen. Peeperkorn führt seinen Bericht weiter mit der Anmerkung, daß es auch nicht zur Debatte gestanden habe, in den Geschäften seines Vaters mitzuarbeiten; dieser habe nämlich erkannt, daß sein Sohn für keine solche Tätigkeit geschaffen sei, und ihm deshalb eine lebenslange Pension ausgestellt. Somit schien das Leben im Luxus ungefährdet. Um so schwerer habe es ihn getroffen, als sein Vater plötzlich bankrott war. Ohne Ausbildung, ohne besondere Talente habe er sich damals entschlossen, seinem Elternhaus den Rücken zuzukehren und sich bei einem Konsortium um eine Stelle als Übersetzer zu bemühen. So führte sein Weg zu dem Büro der Mondex S.A., wo er sich bei einem gewissen Herrn Raiß vorstellen wollte, der allein für die Geschäfte in Asien, Afrika und Südamerika verantwortlich gewesen sei. Peeperkorns Überraschung sei enorm gewesen, als er direkt in das Büro des erfolgreichen Geschäftsmannes geleitet wurde, vorbei an hohen Würdenträgern und Geschäftsleuten, die im Wartezimmer saßen. Größer noch war seine Überraschung, als Herr Raiß ihn mit den Worten „Mein lieber, lieber Peeperkorn“ begrüßte. Herr Raiß war ihm unbekannt, schnell jedoch stellte sich heraus, daß Herr Raiß schon von dem Schicksalsschlag der Peeperkorns gehört hatte. Der junge Müßiggänger konnte sich die Frage, woher ihn Herr Raiß kennen konnte, nicht beantworten, und sprach ihn darauf an, billigend daß seine unverhofft gute Ausgangssituation in dem Gespräch sich verschlechterte. Herr Raiß reagierte verständnisvoll, indem er beteuerte, daß er ja gar nicht erwarten könne, daß Peeperkorn sich an seine flüchtige Bekanntschaft in Paris erinnere. Nachdem er Peeperkorn versicherte, daß dieser sozusagen sein Leben verändert habe, erzählte er die Geschichte seines Lebens. Herr Raiß habe in jungen Jahren gegen seine gutsituierten Eltern rebelliert und sei deshalb nicht zur Universität gegangen, nachdem er die Schule beendet hatte. Sein Weg habe weiterhin nach Paris geführt, wo er seinen Lebensunterhalt als Flaschenwäscher verdient habe. Von Leben sei gar nicht zu sprechen, so elend sei sein Dasein zu jener Zeit gewesen. In tiefster Unzufriedenheit habe er beschlossen, sich das Leben zu nehmen. Eine Endlösung, zu der es nicht kam, weil er auf der Brücke, von der zu springen gedachte, einen Freund aus der Schulzeit traf, der ihn mitnahm. In einer Pariser Gaststätte sei er von seinem Schulfreund einem jungen Landsmann, nämlich ihm, Peeperkorn, vorgestellt worden. Die Art wie er, von Bewunderern umringt, seine Auffassung von dem Stellenwert der Kunstgegenstände des Second Empire zum Besten gegeben habe, habe in Raiß den Entschluß zum Weiterleben geweckt. Peeperkorns Rede über dem Zusammenhang der Kunst und dem täglichen Leben und die These, daß die Macht Basis aller Dinge sei, unabhängig vom Geld, da Geld nur ein Aspekt der Macht sei, ließen Raiß neue Hoffnung schöpfen. Der neue Ehrgeiz, der in ihm entflammte, habe ihn zurück in sein Elternhaus geführt. Sein Wunsch, ein geregeltes Leben mit einer angesehenen Tätigkeit zu führen, stand felsenfest, die Arbeitsuche verlief aber zunächst erfolglos. Die Arbeitgeber, bei denen er sich vorstellte, empfingen ihn nur, um seinem Vater einen Gefallen zu tun. Ihm aber auch eine Anstellung anzubieten, war dann doch mehr als sie seinem Vater schuldig zu sein glaubten. Einen der Männer, die er um Arbeit ersuchte, konnte er beeindrucken und überzeugen, ihn in seiner Firma aufzunehmen. Dies vermochte er, indem er ihm genau den Vortrag gehalten habe, den Peeperkorn in der Gaststätte in Paris über die Kunst des Zweiten Kaiserreiches gehalten hatte. So war das Schicksal ihm gütig gewesen und hatte den Grundstein gelegt für die Machtposition, die er jetzt innehatte, und so würde es nun Peeperkorn gütig sein.

 Als Generalinspekteur die Geschäfte in Südamerika beaufsichtigend habe Peeperkorn unten auf der Leiter angefangen. Eifrig habe er sich nach oben gearbeitet und schon bald sei er prozentual an den Gewinnen des Import- und Exportgeschäfts beteiligt worden, was ihm ermöglichte, eine kleine Insel im Amazonasgebiet zu erwerben. Seinen Reichtum konnte er abermals vermehren, indem er auf seiner Insel Tabak, Kaffee und Kakao anbaute. Die Ernten brachten ihm gutes Geld. Peeperkorns Dasein als Kolonialherr seiner eigenen kleinen Welt sei erschüttert worden; er erkrankte schwer. Er hatte bereits geistig mit dem Leben abgeschlossen, als ein Chinese auf seiner Insel eintraf, den Peeperkorns eingeborene Untertanen hatten holen lassen. Es war eine weitere Fügung des Schicksals, daß der Asiate ihn mit allerlei Tränken und Naturheilmitteln heilen konnte.

 

 Aus dem Mund der vertrauten Persönlichkeit so viel Wissenswertes über die Vergangenheit zu erfahren, erfreut den Zauberbergkenner, auch wenn ihn einige Unstimmigkeiten stutzig machen müssen. Zuerst einmal ist da die blasphemische Wiederauferstehung Peeperkorns durch den amerikanischen Literaturprofessor. Darüber hinaus sind zwei Umstände in Tutens Schilderung mit dem Charakterbild, das Mann erschafft, unvereinbar; schlichtweg falsch. Zum einen bezeichnet sich Peeperkorn auf Seite 220 als einen „Weißen“ und so wird er auch von dem Chinesen genannt. Im Zauberberg wird der Niederländer als Mann nichteuropäischer Herkunft, als Kolonial-Holländer von „leicht farbiger Nationalität“, aus Java stammend, eingeführt; unvereinbar also mit der Bezeichnung „Weißer“. Zum anderen verbringt er in Tutens Phantasie seine Jugend und seine frühen Mannesjahre in Paris. Eine Tatsache, die zwar möglich, aber durchaus unwahrscheinlich erscheint. Über die Frage, ob diese zwei Veränderungen absichtlich von Tuten eingebaut wurden, vermag nur schwer geurteilt werden. Eindeutig mit Absicht ist ein grundlegenderer Wandel an der Person Peeperkorn vollzogen worden. Trifft man in ihm in Manns Roman doch einen höchst sympathischen Stotterer, der mehr durch die Art, wie er seine Reden hervorbringt, als durch seine Worte selbst beeindruckt, so findet man in Tutens Abenteuerroman einen durchaus redegewandten Menschen. Geblieben von den originalen Wortfetzen, Peeperkorn spricht im „Zauberberg“ nur selten in zusammenhängenden, grammatikalisch korrekten Sätzen, sind nur die charakteristischen Ausrufe „Perfekt“ und „Erledigt“. Ansonsten beherrscht er es, seine Ausführungen flüssig vorzubringen. Bei der Schilderung seiner Jugend ist er sogar in der Lage, Herrn Raiß wortwörtlich in der direkten Rede zu zitieren, obwohl dieses Gespräch schon sehr lange her ist. Neben der eleganten Redeweise gefallen Peeperkorns Beiträge durch Wahrheit. Auf Seite 225 offenbart er die Einstellung zum Leben, die er auf seiner Insel im Amazonasgebiet vertrat:

„Doch ich hatte ja gerade erst angefangen, meinen Spaß zu haben, die große Leere des Lebens sollte eben erst mit neuen Abenteuern, neuen Herausforderungen erfüllt werden; der Mensch, der sich ganz auf den engen Bereich der Routine beschränkt, den er sich zum Leben erwählt hat, bei dem jeder Tag nichts als ein Echo des vorangegangen ist, der hat, so fand ich, kaum Grund, daß er überhaupt am Leben bleiben will. Wer einen langweiligen Tag erlebt hat, der kennt sie alle.“

 Neben der deutlichen Kritik an dem ewiggleichen Vegetieren auf dem „Zauberberg“, die er in Manns Roman nicht äußert, sagt er Dinge, die im „Zauberberg“ doch stark unter seinem Niveau liegen würden. Tim gegenüber sagt er zum Beispiel über Madame Chauchat, sie habe mehr Matratzen durchgewetzt, als man brauche, um einen Berg von der Höhe des Machu Picchu aufzutürmen. Niederträchtige Aussagen, die der Kenner des Mann-Romans nicht von Pieter Peeperkorn erwarten würde. Folgend verleumdet er Clawdia noch mehr: „Ihr Körper, sage ich, hat Besucher aus aller Welt empfangen, internationale Gastfreundschaft, unbedingt. Kaum vierzehn Tage vergehen, ohne daß irgendein neuer verschwitzter Tourist bei diesem Körper eintritt und delirierend von den Aussichten, der Kultur, die ihm geboten wurden, wieder von dannen zieht“(S.255).

 Mynheer Peeperkorn wird in Tutens Roman also sehr verändert aufgegriffen, obwohl sein erster Auftritt in „Tim und Struppi in der Neuen Welt“ ihn so beschreibt wie er aus dem „Zauberberg“ bekannt ist. „> Papperlapapp<, polterte eine dritte Stimme, gebieterischer als die anderen, >heute wird nicht gestritten.<“ Sofort ist klar, daß es sich um die altvertraute, gebieterische Persönlichkeit handelt.

 

 

 

3. Die Verführung in Person – Clawdia Chauchat

 

 Vom ersten Augenblick an weckt die Russin Clawdia Chauchat das Interesse Hans Castorps. „Ich muß es wissen!“(S.109) sagt er im Speisesaal beim Mittagessen zu sich selbst, besessen zu erfahren, wer so rücksichtslos die Glastür zufallen läßt. Schon bevor er Madame Chauchat erblickt, tritt sie in sein Leben. Der junge Ingenieur verliebt sich in die Asiatin; genauso spielend nimmt die Russin Tim für sich ein. Aus dem jungen Mädchen mit den rötlichblonden Zöpfen ist eine Frau geworden. Tim trifft eine Frau mit „langen, silbern durchschossenen schwarzen Haaren“(S.27). Hier muß sich Tuten den Vorwurf, er habe schlecht recherchiert, gefallen lassen. Selbst nach den heutigen Frisierkünsten ist es sehr schwierig, Haare zu färben ohne erste, graue Strähnen mitzufärben.  Tims Kindheit ist vorbei, zum ersten mal verliebt sich berühmte Detektiv. Spielend gewinnt sie den Jüngling für sich, wobei eine ihrer Bemerkung im Gespräch mit Tim stark an die Handlung des Zauberbergs erinnert: „Nun, mein Kavalier, Ihr müßt hier auf dem Berge bleiben, wenn Ihr mir dienen wollt“(S.64). Genau das, auf dem Berge bleiben, tut Hans Castorp im „Zauberberg“ für die begehrenswerte Russin. Ziemlich schnell bestellt Madame Chauchat den jungen Tim abends auf ihr Zimmer. In vier Zeilen dieser Szene auf der Seite 65 parodiert Tuten den Aspekt des Duz-Verhältnisses zwischen dem Jüngling und der Verführerin, das für Hans Castorp im „Zauberberg“ so bedeutend ist:

 

„Madame Chauchat!“

„Ja?“

„Clawdia!“

„Ja?“ 

An diesem Abend bereits eröffnet Clawdia ihrem Verehrer die Geheimnisse der körperlichen Liebe. Während Mann die Liebesnacht Castorps und Madame Chauchats nur indirekt andeutet, indem er die Begegnung nach dem Kapitel „Walpurgisnacht“ nicht beschreibt, sondern nur verdeutlicht, daß sie stattgefunden hat (Hans Castorp hat den Bleistift noch eingetauscht), nimmt Tuten sich die Freiheit die Liebesnacht detailliert zu beschreiben. Diese Veränderung ist vermutlich auf die Zeitpunkt der Erscheinung zurückzuführen; zwischen 1924 und 1993 hat sich die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Sexualität stark gewandelt. Mit ihrer direkten Art nimmt Clawdia bei Tuten die Rolle der „Herrin“ oder auch „Domina“ (Seite 65:„Ausziehen, Tim“) ein. Tim ist ihr verfallen. Nach dem Geschlechtsverkehr sagt er: „Ein neues Leben.

Stürbe ich im nächsten Augenblick, so bedauerte ich nichts, so leidenschaftlich habe ich in dieser Zeit gelebt“(S.66). Ähnliche Bedeutsamkeit hat Clawdia Chauchat für Hans Castorp, schließlich ist sie hauptverantwortlich dafür, daß er im Berghof bleibt anstatt aus eigener Motivation ins Flachland zurückzukehren. Er liebt sie und wartet im Berghof auf ihre Rückkehr. Als sie dann zurückkehrt, nicht allein, wie Castorp es gewünscht hätte, sondern in Begleitung Pieter Peeperkorns, hat Castorp nicht mehr die Willenskraft, sich vom Bann des Zauberbergs zu befreien. Hans Castorp liebt in ihr einen schweigsamen Menschen, der sich viele Geheimnisse bewahrt. Clawdia spricht durch ihre Taten mehr als durch ihre Worte. Die Clawdia Chauchat, die Tim verzaubert, ist redseliger. So weiht sie den Leser in ihre Ängste ein, das ist ein Versuch Tutens Madames Handlungen auch für den Zauberberg-Leser plausibler zu machen. Sie sagt Tim, daß die Gesellschaft gewöhnlicher Menschen sie ängstige. Ein möglicher Grund für Madames Ruhelosigkeit, für ihr Nomadentum, über dessen einzelne Stationen nur wenig gesagt wird. Über diese Stationen, ihren Ehemann zum Beispiel, verrät Tutens Roman auch nichts, lediglich spricht Clawdia einige Selbsterkenntisse aus, Gründe für den Lauf ihres Lebens. Vorallem das Mittelmaß und die Langeweile sind es, die Madame fürchtet.

 

 

4. Das Beziehungsgeflecht um Tim, Madame Chauchat und Peeperkorn

 

 

 Nachdem Settembrini, Naphta, Tim und Leutnant Dos Amantes, ein peruanischer Militär, der in den Anden die Gemeinschaft komplettiert, die ganze Nacht hindurch der Erzählung Peeperkorns von seinen frühen Mannesjahren gelauscht haben, bittet der Holländer den jungen Detektiv auf sein Zimmer. Peeperkorn entlockt Tim ein Geständnis, indem er dem reifenden Jüngling mittels Alkohol die Zunge löst. Tim gesteht ihm ein, daß er Clawdia liebt, daß er sie stets geliebt habe und sie immer lieben werde. Daß Tim, der erwachsene Zwölfjährige, der aufgehört hat, zu wachsen, sich in Madame verliebt, weiß Peeperkorn psychologisch zu begründen. Er ist der Meinung, daß Tim in ihr die verlorene Mutter sehe, bei ihr die Geborgenheit und Liebe suche, die ihm als Vollwaise versagt geblieben ist. Deswegen habe er auch mit zwölf Jahren das Wachstum eingestellt, aus einem Impuls heraus, der ihn nicht so werden lassen wollte wie sein Vater, der ihn und seine Mutter durch seinen Tod im Stich gelassen hat. Bestätigung findet Mynheers These darin, daß Tims Wachstums- und Reifeprozeß nach der Nacht mit Clawdia wieder einsetzt, und das in enorm erhöhter Geschwindigkeit. Es ist väterlicher Rat, mit dem der alte Mann dem Jungkriminologen zur Seite steht. Zumindest zuerst, denn nach Tims Geständnis wechselt das Rollenverhältnis: Die beiden sind nun Rivalen. Mynheer Peeperkorn legt alle Gründe dar, weswegen Tim nicht mit Clawdia zusammensein kann. Dem jungen Mann fehle es an finanzieller Tatkraft, um eine Frau wie Clawdia gebührend zu unterhalten. Aus den Gründen werden bloße Verleumdungen. Clawdia sei verrückt. Niveaulose Kommentare wie der mit der “internationalen Gastfreundschaft“ rücken nach. Tims Wut steigert sich in dem Ausmaß, daß keine freundschaftlichen Gefühle für Pieter Peeperkorn übrigbleiben. Nach einer weiteren Beleidigung auf Seite 263 kommt es beinahe zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Rivalen, doch Tim hat sich unter Kontrolle und verläßt Peeperkorns Zimmer nach folgender Aussage seines Kontrahenten: „Sie wollen mich schon verlassen, Monsieur Tim? Bleiben Sie noch und erkunden Sie mit mir Madames Aktivitäten im horizontalen Bereich, auf der Plattform der Liebe. Jede Hure würde, stellte man die beiden nebeneinander, bescheiden erröten.“

 Nach diesem Streitgespräch ist die Rollenzuteilung genau definiert: Die beiden sind nur noch Rivalen im Kampf um Madames Gunst. Bei einem Spaziergang durch die Umgebung des Hotels sieht Tim seine Geliebte mit Peeperkorn am Rande einer hohen Klippe stehen. Er hört, wie Clawdia Peeperkorn drängt, sie gehen zu lassen. Peeperkorn sagt ihr ganz deutlich, daß sie gehen könne, um mit ihren „Milchbubis und Schuljungen“ die „leeren Phrasen ihrer Generation“ zu leben, aber daß sie von ihm keine finanzielle Unterstützung erwarten könne. Nachdem Tim kurz zum Hotel zurückgegangen war, kehrt er zu der Klippe zurück und will Peeperkorn in den Abgrund stoßen. Doch bevor er ihn erreicht, tritt Peeperkorn mit einem Lächeln auf den Lippen zurück in den Abgrund. Diese Szenerie erinnert an das Duell Napthas und Settembrinis. Settembrini, dem es als Humanisten fern liegt, andere Menschen zu töten, schießt in die Luft, worauf Naphta sich selbst erschießt. Durch ihre Art, aus dem Leben zu treten, laden Naphta im „Zauberberg“ und Peeperkorn in „Tim und Struppi in der Neuen Welt“ jeweils eine Teilschuld auf ihre Gegenüber. Durch Peeperkorns Tod verändert sich Tim abermals. Auf dem Rückweg von der Klippe zum Hotel spricht Tim „mit einer Stimme so fest, so klar, so tief, daß sie nichts mehr mit seiner alten Stimme gemein zu haben schien“. Tims Mannwerden ist abgeschlossen, hat sich innerhalb weniger Tage in den peruanischen komplett vollzogen. Das Beziehungsgeflecht zwischen Tim, Clawdia und Peeperkorn entspricht dem Ödipus-Stoff der griechischen Mythologie. Tim findet bei Clawdia mütterliche Liebe, sieht in der Vaterfigur Peeperkorn plötzlich den Konkurrenten und tötet ihn, tritt an seine Stelle. Mit dem Tod des Rivalen verliert Tim den Rest seiner kindlichen Unschuld. Er wird zum Mann. Allerdings ist das Erwachsenwerden nur ein Teil von Tims innerlichem Wachstumsprozeß. Durch die gemeinsame Schuld an Peeperkorns Tod eigentlich vereint mit Tim, sagt Clawdia direkt, daß sie weggehen müsse, um alleine neu anzufangen. Tim ist tieftraurig, pflegt Selbstmordgedanken, die er aber verwirft, um um eine Lektion reicher weiterzuleben.

 

 

 

 

5. Der Jaguarprinz

 

 

Vorhergehend sind wesentliche Gegensätze und Gemeinsamkeiten zwischen Tutens „Tim und Struppi in der Neuen Welt“ und der Mannschen Vorlage dargelegt. Diese erarbeiteten Merkmale lassen die Aussage des Verlegers, Tutens lyrischer Abenteuerroman sei „natürlich ein ausgewachsener Literaturscherz für Kenner“ richtig erscheinen. In meinen Augen ist er allerdings noch mehr als nur ein „Literaturscherz“, auch wenn der Verleger nachreichend sein Urteil erweitert, indem er sagt, daß es Tuten gelungen sei, „eine durchaus einleuchtende Geschichte zu erzählen“. In den Verlauf der Geschichte webt Tuten geschickt einen weiteren inneren Handlungsprozeß ein, der Tim zu mehr als der Liebesaffäre mit Clawdia Chauchat führt. Tim gelangt abschließend zu Erkenntnissen nicht nur über seine eigene Person, sondern über den Wandel der Welt. Weil dieser innere Ablauf mit Hilfe von Farben-symbolismus und gezielt beibehaltenden Leitmotiven gekonnt verfolgt wird, ist eine Betrachtung von „Tim und Struppi in der Neuen Welt“ als eigenständiges, in sich geschlossenes, Werk angebracht. Da dies ein anderes Thema ist, möchte ich mich darauf beschränken, auf den eigenen Charakter des Romans hinzuweisen und den zweiten Reifeprozeß Tims zu kennzeichnen. Ein rein äußerlicher Hinweis darauf, daß es sich um mehr als einen bloßen Literaturscherz handelt, ist der Entstehungszeitraum des Romans. Zu Beginn steht eine Danksagung Tutens an die Guggenheim-Stiftung, die die Arbeit an diesem Buch in den Jahren 1973 und 1974 unterstützt hat. Veröffentlicht wurde der Roman 1996. 23 Jahre Arbeit lassen darauf schließen, daß der Roman mehrfach überarbeitet und durchdacht worden ist; ein Merkmal, daß für eine bloße Parodie nicht charakteristisch ist, da Parodien meistens von ihrer Aktualität leben.

 

 Der anonyme Briefeschreiber aus Brüssel, der Tim stets die Richtung zu seinen Abenteuern weist, schickt ihn dieses mal auf seinen vorbestimmten und doch beeinflußbaren Weg. Der Aspekt des Bestimmt-Seins ist wichtig im Leben des einzigartigen Tim und spielt auch bei seinem philosophischen Werdegang eine tragende Rolle. In Südamerika angekommen erlangt Tim mehr und mehr seherische Fähigkeiten. Bereits vor dem ersten Frühstück in Machu Picchu spricht Tim in visionären Worten. Tim erwidert, von Kapitän Haddock nach seinen Essenswünschen fürs Frühstück befragt, das folgende: „>Wählen Sie für mich etwas aus, bitte<,  antwortete Tim traumverloren, >und bestellen Sie mir ein wenig klares Wasser aus einem Rinnsal hoch oben in den Bergen, einem verborgenen Bächlein, dessen Quellen nur die Gerechten kennen, die reinen Glaubens sind. Da! Aus jener plätschernden Spalte, die ich jetzt neben der Höhle des Jaguars erblicke, an die sieben Meilen von hier<“(S.26). Tim ist sich nicht bewußt, was er an dieser Stelle redet, etwas anderes als er selbst spricht aus ihm. Die „sieben“ Meilen, die er in de Ferne blicken kann, sind selbstverständlich eine Parodie, also wirklich nur ein Literaturscherz, auf die Mannsche Zahlensymbolik und weisen darüber hinaus auf außergewöhnliche spirituelle Kräfte hin; niemand kann durch Wände und Berge sehen. Der Jaguar, dessen Höhle Tim erblickt, ist ein Leitmotiv, dessen Bedeutung nach und nach entschlüsselt wird. Im weiteren Handlungsverlauf folgen ähnlich seherische Momente. Leutnant Dos Amantes sieht in Tim die Erfüllung einer alten Indio-Prophezeihung. Die Rolle des Erlösers, des sogenannten Jaguar-prinzen, nimmt Tim auf Seite 153 an. Mit „Sagt den Leuten, daß ihr Jaguarprinz [...] gekommen ist“  setzt er zu einer Rede an, in der er die Ziele seiner Lehre formuliert. Wie ein Drohprediger im Alten Testament listet er die Verbrechen auf, die nach seinen Begriffen hart bestraft werden sollten. Ganz oben auf der Liste stehen das Schlagen von Tieren und das Mißbrauchen von Kindern. Seine Regeln schützen nicht den Menschen, sie schützen die Erde. Auf seinem philosophischem Weg folgt ein Dialog mit Mutter Erde, die ihm den von Clawdia verdrehten Kopf zurechtrückt, und Drogenerlebnisse, zu denen ihn Leutnant Dos Amantes geleitet. Tim lebt das Leben eines Philosophen, unbekümmert und brotlos, als der Leser ihn aus den Augen verliert. Die Erleuchtung erfahrend taucht Tim ein in den Amazonas. Die Welt als immerwiederkehrende Energie im buddhistischen Sinn eröffnet sich ihm. Ein Ende, daß sowohl von der Handlung her gesehen, als auch von der poetischen Sprache und der erschaffenen Romantik den Schlußworten der Erzählungen Hesses gleicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

Quellenangabe:

 

1)Mann, Thomas:

Der Zauberberg, Frankfurt am Main: Fischerverlag 1991
ISBN 3-596-29433-9

 

2)Tuten, Frederic:

Tim und Struppi in der Neuen Welt, Frankfurt am Main:

Fischerverlag 1996